Salzige Küsse
knirschten unter ihren Reifen. Zwischen ihnen wuchs überall Unkraut. Sie bückte sich und zog einen Grashalm aus einem Büschel vor ihren Füßen. Dabei blickte sie noch einmal zum Haus. Kopfüber sieht es auch nicht besser aus, fand Eve. Die fuchsroten Steine, das wacklige Dach, die morschen Fenster. Alles wirkte gammelig und altersschwach.
Während Eve das Rad ums Haus schob, stolperte sie fast über eine aufragende Wurzel. Sie warf dem riesigen Nussbaum einen vorwurfsvollen Blick zu, ließ ihr Rad dann aber ins Gras fallen und setzte sich gegen den Stamm gelehnt auf den Boden.
Zufrieden rieb sie die Schultern an der Rinde.
Wie gut, dass keiner sie hier sitzen sah, kuschelnd mit einem Baum! Aber was blieb ihr anderes übrig? Sie vermisste sie so sehr, die verrückten Umarmungen von Eileen und den sanften Schulterpuff von Jasper, den er ihr jeden Tag als Guten-Morgen-Gruß gegeben hatte.
Eve schluckte und bemühte sich tief durchzuatmen. Sommer und Sonne rochen hier ganz anders als in Antwerpen. Alles war so unglaublich viel stiller. Viel weniger Gebäude, viel mehr Platz. Aber was hatte man im Winter davon, wenn es ganz früh dunkel wurde und es kalt war? Eve sah sich schon gegen Wind und Regen ankämpfen. Bestimmt würde das hier zehnmal schlimmer sein als in der Stadt.
Sie rappelte sich auf und ging durch die Hintertür ins Haus. Von oben erklangen Gepolter und Gerufe, das Krachen von Holz auf Holz. Nach dem Wohnzimmer war jetzt der Fußboden im vorletzten Zimmer auf der ersten Etage an der Reihe, dem Zimmer neben ihrem. Auch wenn es nicht so aussah, die Pläne ihres Vaters hatten durchaus System.
Morgen kamen Handwerker für die Fenster und nächste Woche für das Dach. Und nächsten Monat für den Garten. Alles wurde aus dem Haus gezerrt, verbrannt, weggebracht, aussortiert. Ihre Eltern ließen keinen Stein auf dem anderen.
Eve sah sich die Küchenwände und die Blumentapete an. Kitsch, hatte ihre Mutter mit einem einzigen vernichtenden Blick gesagt. Stattdessen würden moderne knallige Streifen an die Wände kommen. Eine gute Idee, fand Eve. Das hatte sie ihrer Mutter aber nicht gesagt. Sie wusste, dass Mama auch schon unifarbenen Stoff für die Gardinen ausgesucht hatte. Die neue Küche würde bereits nächste Woche geliefert werden. Die Küchenstühleund den abgenutzten Küchentisch hatten sie aus der alten Wohnung mitgenommen. Aber ob es dadurch auch IHRE Küche würde?
Zimmer für Zimmer streifte Eve durch das Haus. Da war das dunkle kleine Büro, das ihr Vater zum Wintergarten umfunktionieren wollte. Sie strich mit dem Finger über ein vergessenes Bücherregal und trat gegen einen aufgerollten Teppich, der in einer Ecke wartete, bis er mitgenommen wurde. Die ehemals feinen Gardinen hingen jetzt in Fetzen vor dem Fenster.
Die Besenkammer unter der Treppe roch nach Bohnerwachs, Putzlappen und Reinigungsmitteln. Eve ging weiter in die Waschküche, wo ihr der Duft von eingemachtem Obst entgegenschlug. Die alte Frau hatte massenweise Marmelade hinterlassen, aber Mama wollte sie nicht haben.
»Wer weiß, wann sie die gemacht hat. Wir könnten alle krank davon werden«, hatte sie gesagt.
Also hatte Eve den Auftrag bekommen, die Gläser zu leeren, bevor sie in den Container wanderten. Nach drei Gläsern klebten ihre Finger aneinander. Fünf Gläser später hatte Eve aufgegeben.
So viele Stunden Arbeit, so viel Liebe, die ihre Mutter ohne Pardon in den Abfall verbannte. Aus Wut darüber hatte Eve die Gläser viel zu fest in den Container geschmissen. Die Scherben waren hochgesprungen und hatten ihren Arm gestreift. Die restlichen Gläser hatte sie in ihr Zimmer geschmuggelt.
Eve ging weiter ins Wohnzimmer, das noch ganz kahl war. Sie starrte auf die weißen Wände, die kühl zurückstarrten. Das nächste und letzte Zimmer im Erdgeschoss war die Bibliothek. Papa war hin und weg gewesen, als er erzählt hatte, es gäbe eineBibliothek im Haus. Nicht, dass im Moment so viele Bücher darin standen. Zurzeit diente sie ihnen als Lagerraum.
Nachdenklich blickte Eve nach oben, wo noch immer laut gehämmert wurde. Sobald sie sich blicken ließ, musste sie beim Dielenrausbrechen helfen, und dazu hatte sie nicht die geringste Lust. Sie machte es sich auf der breiten Fensterbank gemütlich, stützte das Kinn auf die Knie und schaute in den Garten. Der weit abstehende Ast des Nussbaums schräg vorm Fenster war ideal, um eine Schaukel daran aufzuhängen. Vielleicht sollte sie Max und Fré mal fragen, die könnten
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