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Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Sie besaßen große Kraft, die sie nie anzuwenden schienen. Nicht wie er, dem die ungleich kleinere Herrschaft über Menschen außerordentlich viel bedeutete. Fast konnte er ihre Verachtung riechen.
    „Ich achte das Leben!“ rief er ins Dunkel. „Ich töte nur, wenn ich muß, und die junge Frau, die bei mir ist, ist immer noch unberührt. Leider!“ Er schlug voller Zorn mit der Faust gegen den Fels. „Ich spreche euch das Recht ab, über mich zu urteilen, wenn ihr nicht helfen wollt.“
    Er drehte sich um und lehnte sich gegen die feuchte, harte Wand.
    „Ihr habt die Kraft. Ich verlange nicht viel. Helft uns hier heraus. Helft uns hier heraus, bevor ich sie umbringe.“
    Er ballte die Fäuste, dann öffnete er sie, streckte die Finger aus, die plötzlich mit langen Krallen bewehrt waren.
    „Bitte“, sagte er. Doch er erhielt keine Antwort. Nichts deutete darauf hin, daß er nicht allein im Berg war. Allein mit seiner Beute.
    Er wischte sich die nassen Hände an seinem Gehrock ab. Bergwasser. Wie er es haßte. Es sollte wohl besser zurück zu Charly gehen. Bergwasser hatte eigene Zeitbegriffe. Damit oder durch es hindurch zu kommunizieren konnte einen viel kosten. Zeit flog und zerrte schwächere Lebewesen wie ihn einfach mit. Stunden mochten vergangen sein, oder nur Atemzüge. Er sollte das unterscheiden können, doch er konnte es nicht. Augenblicke, Minuten, Stunden? Sein Unvermögen, es zu spüren, machte ihn wütend. Ein schwächeres Lebewesen – wann hatte er sich zum letzten Mal selbst so gesehen?
    Er kramte seine Taschenuhr hervor. Sie war aus Gold, ein Geschenk Cérises. Er trug sie, weil sie modern war, nicht weil er sie brauchte. Er wußte immer genau, welche Sekunde des Tages im Moment verrann, wie viel Zeit blieb, bis die Sonne aufging, wann sie wieder untergehen und ihn die Nacht von seinen Hemmnissen befreien würde.
    Nun fühlte er nichts außer Desorientierung, ein Gefühl, das er verachtete. Er war Jäger, Räuber, nächtlicher Verfolger. Er sollte sich nicht schwach und unbedeutend fühlen. Er sollte es nicht nötig haben zu bitten. Er hätte es nie versuchen dürfen. Er war Sí, Teil der Na Daoine-Maithe, und es war unbedeutend, ob er die Lebensart der Menschen nachahmte und ihren Goldschmuck trug.
    Die Uhr war stehengeblieben. Du bist vom Weg abgekommen, hatten sie gesagt. Doch was machte das für einen Unterschied? Er war, was er war und würde immer nur das sein. Nur Menschen versuchten, etwas anderes zu sein, als sie waren, und er war kein Mensch, sondern etwas weit Großartigeres und Mächtigeres.
    Er hätte nicht um Hilfe bitten sollen. Es war von Anfang an unwahrscheinlich gewesen, daß er welche erhalten würde. Kräfte, die der Zerstörung frönten, würden die Qual des Mädchens und auch seine eigene genießen, und die Mächte des Lebens waren nicht auf der Seite einer Mücke, die in einer einzigen Sommernacht nach etwas Blut suchte.
    Was für ein Affront! Ein eklatanter Angriff. So unwichtig war er nicht. Er hatte mehr als ein Leben berührt und verwandelt durch das, was er getan oder sich versagt hatte. Er hatte lange gelebt. Er hatte viele Leben zerstört, sorglos zunächst, im Bewußtsein seiner Macht. Er hatte sich entwickelt. Noch immer konnte er das Töten genießen. Charlys Angreifer das Leben zu nehmen war zutiefst befriedigend gewesen.
    Doch er hatte gelernt. Liebe, Gnade und Fürsorge waren ihm nicht mehr fremd. Warum auch? Liebe, Gnade und Fürsorge gab es unter den Sí wie unter den Menschen.
    Er kletterte die schmalen Abgründe entlang zurück zu der Stelle, an der er seinen Schützling gelassen hatte. Er bewegte sich flink und grazil, trittsicher, elegant und blitzschnell. Kein Mensch konnte sich bewegen wie er. Er war keine Mücke, die in einer Sommernacht nach etwas Blut suchte. Wenn er Blut wollte, war es nicht weit entfernt. Er mußte es nur nehmen, und wenn er seine Kraft und Macht demonstrieren wollte, so gab es genug Wege, das zu tun. Sie würde weinen und schreien, aber sie würde ihn nicht aufhalten können, und er konnte leicht ihren Sinn so verwirren, daß sie dem Anschein nach Lust und Leidenschaft verspürte. Kein Geschrei, nur Stöhnen und Keuchen vor erzwungener Erregung. Es würde sie zerstören.
    Sie war wach, saß in ihren Mantel eingehüllt und hatte die Arme um die Knie gelegt. Ihre nachtblinden Augen waren weit offen, und sie blickte direkt nach vorne, ohne etwas zu sehen. Sie sah ihn nicht kommen, hörte nicht seinen geräuschlosen Schritt. Sie

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