Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
er sich doch sicher, daß sie in einem Kampf eher eine Behinderung denn eine Hilfe wäre – selbst wenn sie ihre Röcke lüpfen würde, um an ihr Strumpfband zu kommen.
Er sinnierte über das Strumpfband, dann über das Bein darin, stellte sich vor, wie es stramm und rund, weich und zart darin steckte. Der Gedanke hakte sich in seinem Kopf fest.
Er zog am Zügel und brachte die Pferde zu Stehen. Dann sprang er vom Bock.
„Guter Mann, lenken Sie doch eine Weile. Dazu sind Sie schließlich mitgekommen. Aber Beeilung! Ich möchte nicht, daß die Post uns überholt. Ich werde mich kurz zu meiner Frau setzen und etwas essen.“
Und das Strumpfband überprüfen.
Er kletterte schmunzelnd in den Wagen und setzte sich Marie-Jeannette gegenüber, die ihm mit dem unschuldigsten Gesichtsausdruck der Welt einen Apfel anbot. Das Paradies war vielleicht nicht weit entfernt.
Die Droschke fuhr wieder an.
„Ich dachte, es wäre an der Zeit, deine Waffen zu überprüfen“, sagte er und zog an ihrem Rock.
Sie patschte ihm auf die Hand, griff in die Wagentasche.
„Das hatte ich mir gedacht“, sagte sie. „Deshalb habe ich es bereits hervorgeholt. Dies ist mein Messer. Gefällt es dir?“
Kapitel 60
Eine weitere große Öffnung nach draußen hatten sie nicht gefunden, waren einfach weitergegangen, immer weiter durchs Dunkel. Manchmal, wenn der Weg nicht zu schwierig oder anstrengend war, unterhielten sie sich. Charly war fasziniert von Arpads Wissen. Sein langes Leben hatte ihm viele Erkenntnisse beschert, die außergewöhnlichsten Menschen der Geschichte hatte er persönlich kennengelernt. Er war belesen, fand aber Bücher eher irrelevant, während Charly voller Ehrfurcht vor ihnen und ihren Autoren war. Er interessierte sich mehr für das Leben an sich als für Bildung aus Büchern und hatte sich mit den menschlichen Wissenschaften zwar sporadisch, jedoch nie intensiv und tiefgreifend auseinandergesetzt. Er sammelte Wissen eher zufällig auf dem Weg durch ein langes Leben.
Sein Erinnerungsvermögen war unglaublich. Sein Verstand ebenso. Er sprach viele Sprachen, kannte die unterschiedlichsten Kulturen. Doch obwohl er die mentale Kapazität hatte, die komplexesten Philosophiekonzepte zu verstehen, erinnerte er sich lieber an den Philosophen persönlich als an dessen Theorien. Sein Respekt vor deren Gedankenkonstrukten war nicht groß. Meist fand er sie amüsant.
„Worte“, sagte er. „So viele Worte. Ihr Menschen habt dieses unbegreifliche Bedürfnis, alles zu definieren. Doch euer Ausblick auf die Welt ist begrenzt, und weil euch jede tiefere Einsicht fehlt, kratzt ihr nur an der Oberfläche. Es ist, als versuche ein Blinder, Farben zu definieren.“
„Doch unter Blinden“, antwortete Charly, „könnte seine Definition Bestand und Wert haben. Sie könnte in diesem Zusammenhang wirklich treffend sein.“
Sie hörte sein reuiges Lachen.
„Da magst du rechthaben. Sehr scharfsinnig. Du wärst eine fabelhafte Gastgeberin für intellektuelle Soireen. Die klügsten Köpfe würden dich rühmen und preisen. Sie würden dich alle lieben.“
„Danke“, gab sie trocken zurück. „Ich frage mich, ob ich das als Kompliment werten kann, auch wenn es oberflächlich so klingt. Schließlich hast du gerade gesagt, daß diesen klugen Köpfen die tiefere Einsicht fehlt, sie beschränkt sind und nur an der Oberfläche kratzen.“
Er lachte laut, und wann immer er das tat, hob sich ein Schatten von ihrer Seele. Sein Lachen war die Klangwerdung reinster Freude.
Charly war glücklich, wenn sie über Philosophie, Kunst oder sogar technischen Fortschritt sprechen konnte. Die Diskussionen lenkten ihre Gedanken von der Wirklichkeit und den noch schwärzeren Zukunftsaussichten ab. Sie mochte diesen Mann, wenn sie mit ihm redete. Die Frau, die er liebte, mußte glücklich sein. Dennoch bezweifelte sie, daß Arpad und seine Liebste viel Zeit mit Philosophieren verbrachten.
Nur war er eben nicht ausschließlich wunderbar. Das wußte sie. Manchmal wurde ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation plötzlich wieder bewußt, und sie keuchte fast bei der Erkenntnis, daß jeder Schritt sie ihrem Tod näher brachte. Daß der Tod tatsächlich neben ihr schritt und ihr die Hand hielt, mit ihr über die Bedeutungslosigkeit menschlicher Philosophie konversierte.
Sie wußte, daß er dieses jähe Aufflammen von Angst spürte. Doch er sagte nichts dazu. Manchmal drückte er ihr aufmunternd die Hand. Er wußte, daß sie nicht darüber reden wollte,
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