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Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)

Titel: Salzträume 1: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Seele war Salz, sein Herz Kalk. Sein Leid tröpfelte stetig und unablässig durch den Fels, formte Stalaktiten über ihm und Stalagmiten unter ihm. Er war das Zentrum des Felsens.
    Es hatte eine Zeit gegeben, da war er frei durch die Welt gereist, als sein Geist durch die Sternennächte flog, um die Seelen der Menschen zu finden, zu berühren und in ihnen zu malen. Eine Palette voller Träume, gewoben aus den wirren Bildern menschlicher Erinnerung und neu gerichtet.
    Ein guter Weber war er. Er war Alb, und die Frauen und Männer in den Tälern respektierten ihn. Sie hatten ihn immer respektiert.
    Dabei hatte ein Teil von ihm immer das Gefühl gehabt, niemand nähme ihn so richtig ernst. Sie hatten ihn immer für zu unreif gehalten, seine Pläne für wirr und seine Entscheidungen für undurchdacht. Vielleicht hatten die, die das gedacht hatten, ja Recht behalten. Vielleicht hätte er nicht diese nagende Schuld in sich gespürt, hätte er auf sie gehört.
    Statt dessen hatte er ihnen Träume geschickt. Das konnte er noch. Es hatte diese Macht noch nicht ganz verloren. Doch er konnte nicht mehr alle Menschen erreichen, die über dem Salz lebten und deren Leben Teil des roten Steins war. Er war zu sehr tot. Jetzt erreichte er nur noch die, deren Herzen durch das stärkste menschliche Gefühl weit offen waren, die Liebe. Sie spannen ihr eigenes Netz aus Sorge um und für die, die sie liebten. Durch dieses Netz schickte er, woran er sich erinnerte.
    Er war den Männern gefolgt. Er hatte den Eingang zur Höhle gefunden. Er war die unterirdischen Tunnel entlanggelaufen, die sich immer weiter in den Berg erstreckten, immer tiefer.
    Er hatte den Fremden gespürt, wie dieser immer näher kam. Dessen jugendliche Erregung strahlte durch den Stein und nährte ihn, den Heißhungrigen. Komm, hilf mir, hatte er ihm gesagt, obgleich er wußte, daß das nicht in seiner Macht lag. Er war nur ein Mensch, ein Sterblicher. Ein Atemzug, ein Flügelschlag der Zeit, und er würde zu Staub zerfallen. Jetzt schon war er nur Erde, unterwegs zum Grab.
    Sie hatten ihn gehetzt. Er war davongelaufen. Doch man konnte nicht im Finsteren durch die Höhlen rennen. Der Boden war uneben, rutschig und holprig, und Berge türmten sich nicht nur über einem auf. Sie reichten auch tief in die Eingeweide der Erde.
    Erde zu Erde, Staub zu Staub. Er fühlte, wie seine zweite Wesenheit fiel, während er selbst durch den Stein sank. Getroffen hatten sie einander und sich aneinander geklammert in dem einen Bestreben, gemeinsam zu überleben. Jeder hielt des anderen Leben fest, und so wurden sie eins.
    Jetzt lag er hier und konnte sich nicht erinnern, wer er war und warum und was er ehedem gewesen sein mochte, falls er überhaupt etwas gewesen war. Da war er sich nicht sicher. Vielleicht war er eben erst wiedergeboren worden, war neu, unschuldig und unwissend. Das hätte die Situation vielleicht erklärt.
    Sterbliche hingen mit jeder Faser ihres Seins an ihrem Leben. Es war erstaunlich. Doch sie lebten nur für Momente. Kurze, flüchtige Augenblicke. Wie Eintagsfliegen im Sommerwind tanzten sie und waren am nächsten Tag schon tot, und die zerbrochene Hülle, die ihn aufgenommen hatte und die er jetzt war würde allzu bald den gleichen Weg beschreiten, zu seinem Gott gehen, oder das Schicksal erfüllen, das seine Religion ihm vorgab.
    Gebirge waren nicht zeitlos. Wasser schon, und doch war es nicht einmal von einem Augenblick zum nächsten das Gleiche. Er hörte sein ewiges Tropfen und Fließen und Brausen. Tief drunten im Dunkel, so weit vom Himmel entfernt, daß dieser nur noch ein Mythos war, im Schwarz des Gebirges wußte er, wann es regnete. Denn das Wasser durchbrach das Gestein, sank durch die Ritzen und klingelte in kristallenen Tropfen immer weiter nach unten, und plötzlich brachen Kaskaden von Wasser durch den Kalkstein, brüllten ihre Macht durch Erde und Himmel und wieder Erde, ungehört.
    Mit dem Wasser sprach er nie. Es besaß eine eigene Logik, eigene Ziele, Vorlieben und eigenen Kreaturen, die darin reisten, die Wasser waren, die im Strom flossen, herausschossen und sangen. Sie lebten so flüchtig, daß sie zwischen zwei fallenden Tropfen ein Heim finden konnten, während sie noch durch den Karst rasten.
    Sie waren ihm Brüder, und doch würden sie ihm nicht helfen. Er sehnte sich nach ihnen, nach dem Gefühl, Wasser anzufassen. Ein Glas Wasser – was hätte er dafür gegeben!
    Was denn? Er konnte die Frage nicht beantworten. Etwas Wichtiges.

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