Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
Familienleben ausgeklinkt hatte und nicht mehr mit ihnen redete, war es zu Hause nicht mehr so gemütlich wie früher. Wer hätte geahnt, dass das Gleichgewicht in der Familie so sehr von ihr abhing?
Als sie nach Hause kamen, sagten Debbie und Tim zu Emily, dass sie sich unfair verhalten hätten und dass sie sich freuen würden, wenn der Junge, der ihr so viel bedeutete, wiederkäme.
Sie würden ihn von nun als Familienmitglied betrachten.
Emily nahm es ihnen nicht ab, aber das behielt sie für sich. Ihre Eltern legten großen Wert auf Harmonie. Nicht zufällig unterrichtete ihr Vater Harmonielehre. Keiner von ihnen konnte Dissonanzen gut ertragen.
Als Sam am Nachmittag darauf Emily zu einem Spaziergang abholen wollte, lud Tim Bell den Jungen ein, doch mit ihm in den Keller zu kommen, weil er ihm dort seinen Arbeitsplatz zeigen wolle. Wenn sie den Jungen besser kennenlernten, so insgeheim der Plan von Emilys Eltern, dann wüssten sie auch besser, wie sie ihn wieder aus ihrem Leben hinausbugsieren konnten.
***
Sam hatte gar keine Lust, mit ihm nach unten zu gehen, aber es blieb ihm nicht viel anderes übrig, da Emilys Eltern ihn plötzlich zwischen sich nahmen und mit ihm die steile Kellertreppe hinunterstiegen. Er hatte sein halbes Leben in Kellergewölben verbracht und wusste, sie konnten eine Falle sein.
Aber es stellte sich heraus, dass Tim Bells Souterrainraum keine Folterkammer war, sondern ein Tonstudio. Bestimmt ein halbes Dutzend unterschiedlicher Instrumente lagen oder standen hier herum, außerdem besaß er eine umfangreiche CD-Sammlung, Computerzubehör und Bücher.
Tims eigene Familie zeigte sich nicht sonderlich interessiert an seinem Refugium.
Sam dagegen umso mehr.
So einen Raum hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Tim Bell verfiel ins Dozieren und erklärte, wie man online Noten schrieb, am Computer komponierte und Keyboard spielte. Sam hörte zu, verstand nur etwa jedes dritte Wort und klebte ohnehin mit seinen Augen nur an der Gitarre, die einsam auf einem Ständer in einer Ecke des fensterlosen Raums stand.
Emily war ungeduldig auf der letzten Treppenstufe stehen geblieben. Sie hatte nicht mal einen Fuß ins Studio gesetzt. Schließlich unterbrach sie den kleinen Vortrag ihres Vaters und sagte: »Danke, dass du Sam dein Studio gezeigt hast, Dad…«
Dann gab sie Sam mit einem Blick, den man auf der ganzen Welt kennt, zu verstehen, dass sie hier verschwinden wollte. Aber Sam schien dieser Blick nichts zu sagen, denn er wandte sich an Emilys Vater und fragte: »Dürfte ich wohl mal Ihre Gitarre ausprobieren?«
Resigniert beendete Tim Bell seine Software-Lektion und seine Augenbrauen hoben sich auf eine Weise, die man nur als misstrauisch bezeichnen konnte. »Spielst du denn Gitarre?«
Sam nickte und murmelte: »Ich hab’s mir selber beigebracht.«
Tim Bell durchquerte den Raum und nahm sein Glanzstück, die Martin Marquis Madagaskar, von ihrem Ständer. Sie war aus Rosenholz, wertvoller als irgendetwas anderes in diesem Haus und Tim Bells ganzer Stolz.
Auf Debbie Bells Gesicht zeigte sich ein leicht nervöser Ausdruck.
So auch auf Emilys.
Aber was konnte Sam schon Schlimmes mit der Gitarre anstellen? Sie fallen lassen? Ungeschickt war er nicht, im Gegenteil, sein Gang hatte etwas geradezu Anmutiges, fand Emily.
Sie sah ihren Vater an, der jetzt mit besorgtem Gesichtsausdruck die Gitarre am Hals nahm und sie Sam widerstrebend hinüberreichte.
Sam hatte noch nie etwas so Wertvolles in der Hand gehalten. Und jetzt verstand er auch, weshalb sie Tim so viel bedeutete. Er streckte den Arm aus, um Tim die Gitarre wieder zurückzugeben, und Emily atmete erleichtert aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte.
Sam murmelte: »Die ist wunderbar. Echt. Danke.«
Tim Bell nickte feierlich. Dann spürte er plötzlich eine milde Regung und sagte zu seiner eigenen Verwunderung: »Spiel ruhig mal. Probier ein, zwei Akkorde aus.«
Jetzt saß Sam in der Zwickmühle.
Sollte er ihm die Gitarre zurückgeben? Oder sollte er sie ausprobieren? Was wollte dieser ernsthafte Mann mit der runden Nickelbrille und den Cordhosen lieber – dass er sie ausprobierte oder dass er sie nicht ausprobierte?
Unmöglich zu erraten.
Sam entschied sich für das, was er am allerliebsten wollte. Er setzte sich auf die Lehne des kleinen Sofas, das hinter ihm stand, platzierte die Gitarre auf seinem Schoß und fing an zu spielen.
13
Sams musische Erziehung, wenn man sie denn so
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