Samantha Dyson 02 - Verhängnisvolle Jagd
ein großer, gusseiserner Kessel über einem Feuer, aus dem bereits Dampfschwaden aufstiegen. An einem Ast baumelten ein Schöpfbecher aus Plastik und ein ausgefranster Lappen, der wahrscheinlich als Topflappen diente. Ein Anblick, bei dem man unwillkürlich erwartete, dass gleich ein paar Kannibalen hinter den Büschen auftauchten. Rey musste grinsen. Seine Fantasie ging wieder einmal mit ihm durch. Er hatte schon immer eine blühende Fantasie gehabt, wie in seiner Kindheit, als er im Grand Canyon und den umliegenden Wäldern ständig neue Formen entdeckt hatte. Die einen hatten sich in Boote oder Raumschiffe, andere wiederum in Burgen oder Waldgeister verwandelt, und immer tiefer hatten sie ihn in ihre Zauberwelt hineingezogen.
Diese Einbildungskraft und sein besonderer Blick fürs Detail kamen ihm heute bei seiner Arbeit als Filmer zugute. Sicherlich war dieses Talent auch mit dafür verantwortlich, dass es ihn immer wieder in die Wildnis hinauszog und ihm das Leben in der Stadt oft wie die reinste Hölle erschien. Er fragte sich, wie die Leute es aushielten, inmitten von so vielen Menschen, Häusern und Autos zu leben, ohne dabei völlig durchzudrehen. Schulterzuckend erkannte er an, dass es andererseits Menschen gab, die nicht in der Wildnis leben könnten. Was ihm nur recht war, denn sonst gäbe es noch weniger unberührte Natur für Leute wie ihn.
Laurel kroch aus dem Zelt und schlenderte zu dem Essplatz hinüber. Kurz bevor sie zu den anderen stieß, blieb sie einen Augenblick stehen, um sich umzuschauen. Rey lehnte an einem Baumstumpf, während sein Blick in die Ferne gerichtet war, so als wäre er ganz woanders. Er strahlte eine solche Ruhe und inneren Frieden aus, dass es sie fast magisch anzog. Sie steuerte unbewusst bereits in seine Richtung, als sein Blick plötzlich klar wurde und ihren traf. Er zwinkerte ein paar Mal, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Laurel bekam umgehend ein flaues Gefühl im Magen. Gütiger Himmel, er brauchte wirklich einen Waffenschein für dieses Lächeln! Nur mit äußerster Willensanstrengung schaffte sie es, möglichst gleichgültig zu wirken und sich nicht wie eine Idiotin aufzuführen. Gerade als er sie zu sich winkte, wurde sie durch Jims Erscheinen gerettet.
Der Ranger baute sich vor ihnen auf, die Daumen in die Gürtelschlaufen gehakt. Seinen Bauch vorstreckend, wippte er ungeduldig auf den Fußballen. »Alles fertig?«
Alle nickten.
»Okay, dann zeige ich euch jetzt unsere sanitären Einrichtungen. Auf geht’s.«
Gehorsam erhoben sich die Teilnehmer und marschierten hinter ihm her. Das hörte sich nach Dusche an, und Laurel konnte es kaum erwarten, den Dreck des Tages loszuwerden, endlich den Schweiß abzuwaschen und sich wieder selbst riechen zu können. An dem gusseisernen Topf hielten sie an.
»Das ist die Dusche.« Jim blickte um sich und lachte dann über ihre entsetzten Gesichter. »Kleiner Scherz.« Mit dem Lappen hob er den Deckel des Topfes an und deutete mit dem Kinn auf den Plastikbecher daneben. »Damit schöpft ihr das Wasser in diesen Eimer hier …« – mit der Schuhspitze stieß er einen alten Emailleeimer an und senkte den Deckel wieder –, »… dann geht ihr damit diesen Weg entlang zur Dusche.« Er führte sie auf einem kleinen Trampelpfad vom Lager weg, weiter den Hügel hinauf. Vor einem Baum hielt er an. Er löste ein dickes Seil von einem Zweig und ließ damit etwas herunter, das aussah wie ein großer, dickwandiger schwarzer Plastiksack mit Duschkopf und Wasserhahn. »Hier füllt ihr das heiße Wasser ein, dann zieht ihr das Ding wieder nach oben und bindet das Seil fest. Wie ein Wasserhahn funktioniert, wisst ihr ja sicher. Ihr braucht nicht viel Wasser, das Ganze ist sehr ergiebig. Falls noch etwas übrig ist, lasst es einfach für den Nächsten drin.«
Laurel schaute sich ungläubig um. Das hier war die Dusche? Hätten sie nicht wenigstens eine Art Sichtschutz anbringen können, damit nicht jeder zusehen konnte? Die kleine Lichtung war zwar einige Meter von ihrem Lager entfernt, doch ringsherum gab es nur ein paar ausgemergelte Büsche und dünne Bäume. Die Blätter waren nach dem Winter auch noch nicht sehr dicht, sodass man das Lager von hier gut erkennen konnte. Ebenso wie der Duschplatz vom Lager aus einsehbar war. Zumindest teilweise. Von Privatsphäre konnte also überhaupt nicht die Rede sein.
Vivian, die Amerikanerin, meldete sich zu Wort. »Woher wissen wir, ob jemand in der Dusche ist oder
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