Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
hatten sie dabei sogar das schöne Gefühl, »nur ihre Pflicht zu tun«.
Schwer vorstellbar, daß das die
Faust Gottes
sein sollte. Falls doch, war sie in der Bewachung des Objekts gewiß erschreckend effizient. Du wirst es nie herausfinden, sagte sich Kaufner, wirst das Gesetz dieses Berges nie vollständig begreifen. Aber du wirst dich daran halten. Auch der Sultan wird sich daran halten, er wird nicht mit Mitteln arbeiten, die seinem Stolz zuwiderlaufen. Kaufners Chance bestand darin, daß er unterschätzt wurde. Man hielt ihn für einen alten Mann, der es sowieso nicht schaffen würde, man nahm ihn nicht ernst.
Hier im Gebirg wanderten die Stimmungen so schnell wie die Wolken; war er oben in Samarkand noch verzagt gewesen, erfüllte ihn jetzt ein sanfter Größenwahn. Selbst im Krieg gab es winzig violette und weiße Blüten am Wegesrand! Die nackten Hänge mit ihren vereinzelten Grasbüscheln, sie waren schön! Erst die Schüsse rissen Kaufner aus seinem gedankenverlorenen Dahinschreiten. Doch sie galten gar nicht ihm, wieso hatte er sich überhaupt auf den Boden geworfen? Die Stille danach war stets von besonderer Bedeutung, Kaufner wagte kaum, sich den Dreck aus der Kleidung zu klopfen. Die Staubfahnen, wie sie eilig über die Hänge zogen und dann jählings in sich zusammensanken, wollten sie ihm etwas bedeuten? Und dazu roch es so, wie Ginster in seiner Vorstellung hätte riechen sollen. Ein heiliger Moment, vielleicht starb da gerade ein Kerl.
Und einen Atemzug später roch es nach … Estragon? Kaufner atmete tief ein, ging weiter. Nur ein einziger Mann wagte es, ihm entgegenzukommen, ein Alter, der mit Losen der russischen Fernsehlotterie handelte. Einsatz zweihundert Som, Kontaktleute auf der anderen Seite des Zaunes, die die Ziehung der Zahlen auf
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verfolgten, der Alte versicherte, alles gehe mit rechten Dingen zu. Am tiefsten Punkt des Pfades ein unscheinbar gelbgrauer Lehmbau, der sich als Gemischtwarenladen entpuppte, er war voller pokernder Männer, auf der Kühltruhe haufenweise Spielkarten und Geld. Selbst hier unten, in unmittelbarer Nachbarschaft des Zauns, herrschte tiefster Frieden, sofern nicht gerade Krieg war. Am späteren Nachmittag das übliche Gewitterdonnern aus der Ferne, der Wind frischte auf, tief übers Tal zogen violettgraue Wolken. Fast am westlichsten Zipfel des Turkestanrückens traf der Pfad auf einen anderen Pfad, der vom Fluß heraufführte (durch den Zaun derzeit freilich abgeschnitten war). Fortan ging es wieder bergauf, in eine Falte zwischen den letzten Ausläufern des Gebirges hinein. Schritt für Schritt sah man deutlicher, daß diese Faltung des Gottesgebirges vom Rest des Hochplateaus abgeschnitten war, der Westkamm überragte sie bei weitem. Und jetzt, ja, jetzt erinnerte sich Kaufner. Das war der Weg, den er damals mit Odina gegangen. Nach einer guten Stunde hing auch schon das Mausoleum vor ihm am Hang. Mit salzigen Lippen, verkrusteten Nasenlöchern, braunstaubverklebten Händen, schwarzen Fingernägeln schritt Kaufner darauf zu. Endlich war er dort, wo er seit einem Dreivierteljahr sein wollte.
Das Mausoleum mit der marmorbruchgefliesten Krypta und dem teppichbedeckten Grab, das Mausoleum mit dem dreitausendjährigen Baum, das Mausoleum, unter dessen Bodenbrettern die Märtyrer vom Heiligen Kampf eine Weile ruhen durften. Am Eingang des Friedhofs hockten die Bettler, wie damals. Der Weg zwischen den Gräbern ein letztes Stück bergauf, das Mausoleum selbst ein schlichter heller Ziegelbau, darum herum und eng an eng die Schmucksarkophage der dreihundertsechzig Scheichs, die auch im Tode die Nähe des Heiligen nicht hatten missen wollen. Sogar die Pilger fehlten nicht, wie sie das Gebäude umkreisten, das Mauerwerk dabei mit den Fingerspitzen berührend, immer mal wieder mit beiden Händen übers eigene Gesicht streichend, damit eine Spur der Heiligkeit auf sie übergehe. Erstaunlich, daß noch so viele den Weg hierher fanden, seit letztem Herbst war es ja nicht gerade einfacher geworden.
Anstelle des Pilgerstabs hatten die meisten Männer nun aber ein Gewehr dabei. Einige gingen mit Kerzen herum, hockten sich grüppchenweise zwischen die Gräber, hängten kleine Gegenstände ins Gesträuch. Andere tranken aus dem Brunnen und legten danach einen Geldschein auf den Rand. Ein kleiner Junge verkaufte Plastikflaschen, damit die Daheimgebliebenen gleichfalls vom heiligen Wasser kosten konnten. An einem Baum hing ein enthäutetes Schaf, darunter eine
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