Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
so fest, als hätte er niemals eine Botschaft bekommen. Lang lag er wach in seiner Baracke, lauschte dem Geschrei am Lagerfeuer. Für einen symbolischen Sieg war es nie zu spät, selbst wenn man den Krieg vielleicht schon verloren hatte. Sofern es Befehlsverweigerung sein sollte, falls er weitermachte, war ihm das recht – sein Auftrag war wichtiger als seine Auftraggeber. Im übrigen war er ja nicht nur für die Freie Feste aufgebrochen, für Deutschland oder was davon übrig geblieben, nein! Sondern für den Freien Westen, die
Idee
des Freien Westens, für all das, was er bis zu seiner Flucht aus der DDR bewundert, geliebt, begehrt hatte. Und sich danach immerhin als Vision einer besseren Welt bewahrt hatte, auch wenn die Realität meilenweit davon entfernt war. Konnte man in diesen wirren Zeiten nicht mehr für diese Vision leben, konnte man immer noch dafür sterben – und das war viel größer als alles, was ein Morgenthaler vom Südbund aus womöglich planen sollte.
Nein, Nationalist war Kaufner nicht, er war Europäer. Was das jenseits der Bitterkeit hieß, mit der sich das Wort mittlerweile vollgesogen, davon hatte ein Morgenthaler keine Ahnung. Außerdem hatte Kaufner ein Ziel zu erreichen. Aus der Summe seiner kleinen Taten würde sich mit etwas Glück am Ende die große Tat aufsummieren, würde sein Leben einen Sinn bekommen, er konnte gar nicht anders als weitermachen. Bislang hatte er nur einen Auftrag zu erfüllen. Ab heute stand er in der Pflicht, in der Pflicht sich selbst gegenüber. Ganz nebenbei, ganz nebenbei hatte er sich auch noch von einem Makel reinzuwaschen. Wie immer der Sultan und Januzak zusammenhingen, hier würde es sich niemals klären lassen. Hingegen im
Tal, in dem nichts ist
, dort schon.
Das war schnell entschieden. Kaufner war bereits viel zu lang in Samarkand, es wurde Zeit, daß er den letzten Teil seines Weges zurücklegte. Daß er etwas anderes als Murmeltiere vor den Lauf bekam. Vielleicht dünstete der Teppich etwas aus, auf dem er seinen Schlafsack entrollt hatte, der Teppich aus bunt eingefärbter Schafwolle, vielleicht war es der Boden, auf dem Samarkand errichtet war: Kaufners Gedanken wurden von Tag zu Tag blutrünstiger, seine Träume nicht minder. Morgen würde er dem Sultan seinen Entschluß verkünden und um freies Geleit bis zum Mausoleum bitten. Oder wie man das nennen mochte.
Aber die Mäuse raschelten in jener Nacht besonders laut. Als Kaufner mit der Taschenlampe einen Stapel Matratzen ableuchtete, der an der Wand zwischen alten Schränken und Vitrinen aufgeschichtet, war es am Ende ein kleiner Frosch, der im Lichtkegel saß und sichtbar nach Luft pumpte, er wagte nicht, sich zu regen. Denk nicht weiter drüber nach, sagte Kaufner überraschend laut, alles hat eine Richtigkeit.
Schon vor dem Frühstück teilte er den Wächtern der Prunkjurte mit, daß er auf das Angebot des Sultans zurückkommen wolle. Der Sultan ließ seinen Sohn wissen, er werde ihm wie versprochen helfen und einen Mann als Führer mitgeben, er müsse ihn nur vorher noch zum Tode verurteilen. Eine Stunde später stellte sich heraus, daß der Dieb als Kaufners Führer ausgewählt worden, er hatte die Nacht im Käfig verbracht. Barfuß, wie er war, wurde er auf den Weg geschickt, Wunden an Kopf und Gliedmaßen zeugten davon, was er seit seiner Festnahme durchgemacht hatte.
»Du bist tot!« rief man ihm zum Abschied zu, vielleicht meinte man auch Kaufner. Kaum hatten die beiden die kleine Klamm durchschritten, waren sie zurück im Karst. Verkrustete Erde, Staub. Da und dort ein Zitronenfalter, ein Kohlweißling, ein Fuchsschwanz.
Nein, er habe weder gestohlen noch betrogen, versicherte der Kerl nach einer Weile, in der er mürrisch vorangeschritten war: Warum auch, er sei Händler, an Markttagen regelmäßig in Samarkand, jeder kenne ihn dort. Die Jungs hätten bloß Lust auf Spaß gehabt. Heute morgen habe ihm der Sultan eine Wette angeboten: Seine Schuld sei erwiesen, sein Leben verwirkt. Er selbst nichts weiter als ein bewegliches Ziel. Aber wenn er es zurück in sein Dorf schaffe, sobald er Kaufner am Mausoleum abgeliefert habe, sei er ein freier, unbescholtner Mann. Noch war er sicher. Allerdings erwarteten ihn die Jungs bereits. Den direkten Weg zurück und nach Hause durfte er jedenfalls nicht einschlagen. Doch wohin sollte er sich wenden? Kaufner empfahl ihm den Tunnel, der werde mittlerweile von den Chinesen kontrolliert.
Der Tunnel. Daß die Chinesen die Paßstrecke über den
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