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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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Blutlache, am Baum daneben angepflockt eine Ziege, die anscheinend erst morgen geopfert werden sollte. Alles war wie im Jahr zuvor, als hätte der Krieg weder unten im Tal noch oben im Gebirg Einzug gehalten.
    Alles bis auf die beiläufige Bewaffnung fast aller Beteiligter. Der Imam erkannte Kaufner und begrüßte ihn so herzlich wie einen alten Freund. Lud ihn ein, am Mahl der Pilger teilzunehmen und das Nachtlager mit ihnen zu teilen. Einige der Pilger sahen zwar nicht unbedingt wie Pilger und nicht einmal wie Einheimische aus, aber sie beteten am innigsten, lächelten Kaufner besonders milde zu. In der Krypta selbst herrschte noch Hochbetrieb, man sang, rezitierte, berührte. Und dann doch eine Überraschung: Der Vorbeter, Kaufner aufs freundlichste beplaudernd, führte ihn schließlich zum Wunschbaum, um dort voll Stolz auf den Derwisch zu zeigen, der sein Lager in einer der Wurzelhöhlen aufgeschlagen hatte. Ein Zeichen des Himmels! Nun habe auch dieses Mausoleum einen lebenden Heiligen, der sich auf seine stumme Weise mit der Ausspähung des Verborgenen und der Beeinflussung des Weltenlaufs beschäftige. Der Derwisch, bevor er vor etlichen Wochen hier völlig ausgezehrt aufgetaucht, habe den Mond verschluckt, könne nur mehr tanzend von seinen Unterredungen mit Gott künden. Der Imam lächelte, als er Kaufners Begriffsstutzigkeit erkannt hatte: Die Ungläubigen im Tal hätten dem Derwisch die Zunge abgeschnitten. Er ernähre sich fast ausschließlich von Wein und verkünde seine Weisheit auf lautlose Weise.
    Der heilige Baum stand neben den Fundamenten eines zerfallenen Zarathustratempels. Seine gewaltig knorrigen Wurzeln, einige davon wölbten sich bis auf Mannshöhe aus der Erde heraus, hatten eine natürliche Höhle gebildet, die man mit den alten Tempelsteinen zusätzlich ausgemauert hatte. Darinnen saß ein nackter Mann, glatzköpfig, mit ausgeschlagenen Schneidezähnen, Kaufner erkannte ihn sogleich wieder. Auch der Derwisch wurde von einer boshaften Lebhaftigkeit erfaßt, als er Kaufners ansichtig wurde. Wie er sich emporrappelte, um, ein Knochenmann mit totenschädelartigen Gesichtszügen, auf ihn zuzuwanken, sah man deutlich die Stellen, an denen man ihm die Nägel durch die Hände geschlagen hatte. Böser Mann! wütete der Derwisch wortlos gegen Kaufner an, er stammelte, grunzte, schrie, vor allem spuckte er ihm ins Gesicht.
    Kaufner hätte ihn am liebsten zu Boden geschlagen. Der Imam entschuldigte sein Verhalten, er habe schon manch anderen bespuckt, ja, ihn selber, ein gutes Zeichen. Es dauerte, den Rasenden zu beruhigen, der Imam huldigte ihm, einige der Pilger kamen neugierig herbei, auf ein Wunder spekulierend. Kaufner bebte, irgendetwas mußte er tun, irgendetwas, um die angestaute Erregung aus dem Leib zu schaffen. Weil er nicht schlagen konnte, schlagen durfte, entschloß er sich kurzerhand, in den Wunschbaum hinaufzusteigen, wie es Odina und manch anderer vor ihm getan. Der Baum war ein Riese, von seinen aufgewölbten Wurzeln kam man bequem auf die untersten Äste. Überall im Nadelwerk hingen bunte Stoffetzen, Papier-, Plastik- und silbern glitzernde Alufolienstreifen. Unten grollte der Derwisch, oben reagierte sich Kaufner auf seine Weise ab. Bald kletterte er in luftiger Höhe, so entschlossen, als wäre er vor lauter Wut wieder vollkommen schwindelfrei. Einige letzte Tücher an den Ästen, man sah weit hinein in die usbekische Ebene. Bis nach Samarkand. Kaufner suchte sich eine halbwegs bequeme Astgabel, wischte sich den Schweiß mit seinem Taschentuch ab, preßte es aus. Betrachtete die Goldbären, wurde ruhiger. Erinnerte sich an Shochi und ihre unbeholfene Entschuldigung, leider habe sie nicht besser sticken gelernt. Erinnerte sich an ihren blauen Blick zum Abschied, von einer Innigkeit, wie sie nur Kinder haben. Mit einer winzigen Wendung des Kopfes jedoch war der Blick ganz anders, war sie kein Mädchen mehr gewesen, sie hatte ihn angesehen wie eine Frau:
    »Ich weiß, wohin du gehst, Ali.«
    Sie hatte es geträumt oder sowieso schon immer gewußt.
    »Geh nicht, Ali. Es hat noch keiner überlebt.«
    Vielleicht wußte sie auch in diesem Moment, wo er war. Vielleicht würde sie auf ihn aufpassen, als Schutzengel, so hatte sie’s ja versprochen. Bei seinen allerersten Fahrten ins Nuratau- und ins Serafschangebirge hatte sie ihn immer umarmt. Einmal hatte sie ihm ein Gedicht zum Abschied aufgesagt, das sie in der Schule auswendig gelernt:
    »Fliegen würd’ ich wie ein Vogel,/doch

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