Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
mein Flügel ist geknickt./Sinnen werd’ ich müssen, trachten,/träumen gar, dich zu beschützen.«
Das Gedicht war aus »Leerer Berg«, damals hatte sie noch geweint und gelacht. Beim Abschied in diesem Frühjahr hatte sie ihn aus ganz leeren Augen angeblickt, keine einzige Träne mehr für ihn gehabt.
Kaufner zerriß das Taschentuch, ein anderes hatte er ja nicht, und knüpfte die eine Hälfte an einen Ast.
»Ab morgen wird es ernst, Shochi«, flüsterte er, »vielleicht paßt du tatsächlich ein bißchen auf.«
Als er am Fuß des Baumes ankam, war er wieder ganz ruhig und gefaßt. Die Dämmerung hatte eingesetzt, der Imam rief mit brüchiger Stimme zum Abendgebet.
Die nächtliche Gesellschaft der Pilger raschelte, hustete, stöhnte, schnarchte. Kaufner lag und lauschte, schließlich schlich er sich davon ins Mausoleum. Auch dort gab es kein elektrisches Licht mehr, doch die Halbedelsteine, die im Wandmosaik eingelegt waren, schimmerten. Kaufner schlug den Teppich zurück, hob das Bodenbrett an und leuchtete mit seiner Taschenlampe … auf einen Haufen alter Knochen und Schädel. Kein einziger Sarg, kein einziger frischer Leichnam.
Erst recht keine Grabbeigaben. Hingegen jede Menge Waffen. Sogar einige schöne Stücke von Heckler & Koch, Kaufner hatte ein Auge dafür, er erkannte Mini- und Micro-Uzis, wie sie außer den Jungs des Sultans hierzulande keiner benützte. Hinter ihm mit einem plötzlichen Geraschel der Derwisch, er knurrte, als wolle er ihm an die Gurgel gehen. Kaufner packte ihn und ließ ihn eine Weile röcheln, zischeln, zappeln. Böser Mann. Am liebsten hätte er ihn auf der Stelle festgenagelt. Wenigstens stieß er ihn ins Loch zu den Knochen und Waffen, legte Bodenbrett und Teppich sorgfältig darüber. Es würde eine Weile dauern, bis sie ihn gefunden hätten.
Kaufner war nun schon so lang im Gebirg, als man ihn am nächsten Morgen mit allen erdenklichen Segenswünschen verabschiedete, lächelte er nicht mal mehr. Der Imam hatte gerade das Morgengebet hinter sich gebracht; daß die Derwischhöhle leer war, war ihm noch nicht aufgefallen. Natürlich steckte er mit den Jungs aus Samarkand unter einer Decke, vielmehr mußte ihren Befehlen Folge leisten, das Mausoleum lag ja im Reich des Sultans. Hätte ihn Kaufner offen darauf angesprochen, der Vorbeter hätte ihn am Ende gewiß um Verständnis gebeten. Was er an seiner Stelle denn getan hätte.
Wieder ein staubiger Tag. Und doch völlig anders als alle bisher gewesenen. Ab jetzt befand sich Kaufner im Hoheitsgebiet des Kirgisen, verbotenenerweise, und ging mit entsichertem Gewehr. Nicht von ungefähr gab es keinen unter den Pilgern, der mit ihm aufgebrochen oder in gebührendem Abstand gefolgt wäre. Daß es neben dem schwarzen und gelben dennoch auch frischen grünen Eselskot auf dem Weg gab, überraschte ihn nicht. Nichts würde ihn mehr überraschen, niemand würde ihn überraschen, er war aufs Endgültige gefaßt. Wer immer diesen Pfad zu gehen wagte, der würde kein Anfänger sein. Dann konnte es nur eines geben: eine schnelle Entscheidung.
Denn Anfänger war auch er selbst keiner mehr. Gewiß erkannte man das bereits an der Art, wie er inzwischen ging, am langsam Verzögerten seiner Schritte, am Wiegen in den Hüften, jeder mußte es ihm von ferne ansehen. Ob er das Mal trug, von dem Odina gesprochen? Immer wieder stellte er sich die entscheidende Begegnung vor, auf die der Tag seiner Meinung nach hinauslaufen mußte. Bald würde er etwas Besseres als Murmeltiere vor den Lauf bekommen. Am liebsten natürlich Januzak.
Kaufner wußte, daß er ihn wiedersehen mußte, die Schluchten hier waren zu eng, die Hänge zu steil, selbst wenn er es gewollt hätte, sie würden einander nicht ausweichen können. Die Trinker am Lagerfeuer in Samarkand hatten oft von ihm erzählt, wiewohl dabei nie klar geworden war, in welcher Beziehung er zu ihnen und zum Sultan stand. Im Gegenteil, Kaufner schien der einzige zu sein, der eine solche Beziehung unterstellte, ja, davon ausging, er und der Sultan müßten trotz allem und allem dieselbe Person sein. Die meisten schwärmten von Januzak als einem Paßgänger, der alle anderen bislang überlebt hatte, ein Teufelskerl, sicherlich Söldner, das seien die Besten, sie würden von keinerlei weltanschaulichem Eifer zu falschen Entscheidungen getrieben und auf falsche Fährten.
Aber auch mit den Jungs würde es Kaufner zu tun bekommen, keine Frage. Und mit der
Faust Gottes
, sofern sie mit dem Sultan und
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