Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Imam: Heilige Krieger, die eine Weile hier ruhen dürften.
Blitzartig stellte sich Kaufner das Versteck von Timurs Gebeinen vor, knapp neben der angeblichen Hauptattraktion unter einem losen Brett. Ja, so in etwa. Natürlich noch viel tiefer in den Bergen verborgen.
Trat man dann wieder in den Abend hinaus und blickte vom heiligen Baum aus in die Ebene Richtung Samarkand, mußte man sich einbilden, auch dort Staubfahnen zu sehen, Staubfahnen usbekischer Militärkolonnen womöglich. Wenn man lang genug hinüberschaute, sah man sie tatsächlich.
Aber egal, die Einzelheiten würde man drüben erfahren. In Gedanken war Kaufner ein weiteres Mal all die Wege gegangen, die er seit seiner Ankunft eingeschlagen, und er hatte dabei immer wieder bloß denselben Verdacht bestätigt gefunden. Nun gab es nur mehr das
Tal, in dem nichts ist
und die Szene mit Januzak, an die er sich erinnern mußte. Noch konnte Kaufner den Atem des Kirgisen spüren, der in der Erinnerung nach Zwiebeln roch und Fleisch und Wodka, konnte seinen Blick spüren, der gar nicht stechend gewesen war, eher auf eine verrückte Weise traurig, auf eine traurige Weise verrückt.
»In seiner Tasche riecht es nach Blut«, hatte Odina gewarnt. Wenn Kaufner an seiner Hand roch, vermeinte er nach wie vor, sich übergeben zu wollen. Die größte Schmach seines Lebens. So unvorstellbar groß, er brannte auf Rache.
Später. Laß das jetzt, du hast Wichtigeres zu tun, du hast eine Entscheidung zu treffen, in wenigen Minuten wirst du aus dem Zelt treten. Ganz kalt wurde Kaufner, ganz sachlich, fast auf eine grimmige Weise glücklich, schließlich war er seinem Ziel mit dem gestrigen Tag bedeutend näher gerückt, hatten all die sinnlosen Wanderungen mit Odina plötzlich Sinn bekommen. Die nächsten Schritte lagen klar vor ihm, bis hin zu Timurs Grab, das er im nächsten Frühling finden würde, hier, in diesem Bergmassiv. Aber jetzt würde er zuerst einmal aus dem Zelt treten und Odina zum Teufel jagen. Eine Waffe, ihn abzuknallen, hatte er ja nicht. Auch das würde sich ändern müssen.
Doch wie er den Reißverschluß seines Zeltes entschlossen aufriß und dorthin sah, wo die Nacht über das Lagerfeuer gebrannt, war da nichts als ein Haufen verkohlter Äste. Mit zwei, drei Schritten stand Kaufner vor der schwelenden Asche, der Teekessel stand mitten darin. Nachdem er den Deckel hochgeklappt hatte, konnte er den Tee riechen. Den hatte der Junge also noch für ihn aufgesetzt, bevor er sich davongemacht. Mit Sack und Pack und Esel.
So hatte sich Kaufner den Abschied von Odina nun auch nicht vorgestellt. Samarkand lag in der Ebene, einen Tagesmarsch entfernt, und glänzte.
Zweites Buch Der Schrei des Fremden
Das Winterhalbjahr 28 / 29 begann mit viel Lärm und einem Toten. Spätnachts war Kaufner in der Stadt angekommen, vom Registan bis zum Universitet Boulevard hatte ein volksfestartiger Trubel geherrscht, wie er ihn noch nie erlebt. Tausende Russen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusehends an den Rand der Gesellschaft geraten waren, tanzten, feierten, fielen einander mit tränenüberströmten Gesichtern um den Hals. Zum zweiten Mal seit der Rückeroberung Ostdeutschlands durften sie Hoffnung hegen, daß es bald wieder so schön werden könnte wie in der guten alten Zeit.
Wenige Stunden zuvor war bei
Gazprom TV
die Meldung gekommen, die Panslawische Allianz sei von ihrem Brückenkopf in Alaska, den sie seit Anfang des Jahres gegen die Bombardements der US -Drohnen gehalten hatte, zur Gegenoffensive übergegangen. Erfolgreich! Die Yankees, wie man sie in den russischen Medien nannte, leisteten angeblich nur schwachen Widerstand. Alaska kehre heim in die Föderation! grölten die Menschen den Sicherheitskräften zu, die sich am Straßenrand aufgereiht hatten, dahinter die nichtrussische Bevölkerung der Stadt, schweigend.
Auch in Shers Büro brannte noch Licht, drinnen saß die Familie vor dem Fernseher und ließ sich von einer russischen Talkshowrunde erklären, Alaska sei immer russisch gewesen und werde nun »wiedereingliedert in den Verbund der Föderation«.
»Schön, daß du wieder da bist!« strahlte Shochi, freilich ohne Kaufner, wie früher, zu umarmen. Sie habe von ihm geträumt, das habe richtig weh getan. Shochi seufzte wie eine Erwachsene. Aber es sei ja noch mal alles gutgegangen.
Ob die Russen auch in Deutschland vorgerückt seien, fragte Kaufner, kaum daß er reihum jeden begrüßt hatte.
In Deutschland? Ja, natürlich, erinnerte
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