Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
Vom Netzwerk:
anderen zu sterben.«
    Es wurde Zeit, daß sie nach Hause kamen (Kaufner dachte tatsächlich »nach Hause«), selbst wenn es auf diesem oder jenem Gipfel noch ein Heiligengrab gab, das angeblich wichtig war, in diesem oder jenem Tal ein verstecktes Mausoleum, das trotz aller gesetzlichen Verbote Pilger anzog. Oder einen der Lehmbauten, wie sie die Kirgisen für ihre Toten errichteten, sie schieden ja sowieso aus. Während die beiden, der Herr und sein Eseltreiber, den tadschikischen Teil des Serafschanrückens passierten, sahen sie weit über sich eine Drohne kreisen; je tiefer sie ins Serafschantal hinabstiegen, desto häufiger wurden sie der Militärkolonnen gewahr, deren Staubwolken sie sich bislang als erste Vorboten der Herbstwinde erklärt hatten. Irgendetwas war während der vergangenen Monate passiert, irgendetwas passierte da unten nach wie vor oder wollte passieren. Kurz hinterm Heiligtum von Mazor-i Sharif stießen sie auf das erste Dorf, dessen Bewohner die Straße, die hindurchführte, verbarrikadiert hatten. Sobald das Woher und Wohin geklärt und Kaufners Kompaß als Wegezoll beschlagnahmt war, wurden sie durchgewunken. Jeder der Bauern hatte ein Gewehr geschultert, sie sprachen offen von Krieg, die Tadschiken hätten angefangen. Es waren Usbeken. Odina glaubte ihnen trotzdem.
    Der Krieg, war er endlich in den Tälern angelangt? Wie hatte man ihn, hoch oben auf den Geröll- und den Schneefeldern, wie hatte man ihn nur so lange vergessen können? Kaufner fragte sich, was in Europa den Sommer über passiert sein mochte, ob es Deutschland überhaupt noch gab? Lauter leere Tage lagen hinter ihm, er hatte sich ein halbes Jahr lang im falschen Gebirge herumgetrieben, ohne dem Objekt einen einzigen Schritt näher gekommen zu sein.
    Indem sie auf Pendschikent zuliefen, lagen ein paar tote Kühe am Wegrand, offensichtlich erschossen. In Pendschikent selbst an jeder Straßenkreuzung ein Panzer. Odina besorgte einen neuen Esel und gab dem alten einen Klaps, wie er’s stets getan, sofern sie bei einem Schäfer übernachtet und anderntags ein frisches Lasttier hatten mitnehmen können. Nach Hause finde ein Esel immer, hatte der Junge gesagt, auch wenn er dazu Tage brauche.
    Für sie selbst hingegen schien es unmöglich, von hier nach Hause zu kommen. Überall blickten sie in mißtrauische Gesichter, keiner wollte sich Zeit für ihre Fragen nehmen. Schon zur Abenddämmerung hörte man verschiedentlich Schüsse, Schreie, Kommandos, so ging es weiter bis zum Morgengrauen. Kaufner fühlte sich an die letzten Jahre in Hamburg erinnert, auch da war es immer erst mit Einbruch der Nacht wirklich gefährlich geworden.
    In den offiziellen Verlautbarungen wurde natürlich nur von »einzelnen Zwischenfällen« gesprochen. Die Bewohner von Pendschikent wußten es besser, Kaufner wußte es besser, Odina wußte es am allerbesten: Ursprünglich hatte er geplant, im Serafschantal einfach flußabwärts und über die Grenze zu gehen, knapp neben der offiziellen Grenzstation. Nun, da diese geschlossen und der gesamte Grenzverlauf im Tal weiträumig abgeriegelt war, um die Flüchtlinge im Land zu halten, mußte es wohl oder übel ein Umweg über den Turkestanrücken sein.
    Als sie das kleine Mausoleum erreicht hatten, in beträchtlicher Höhe über dem Tal, löste sich Odinas Miene in einem erleichterten Lächeln. Er wollte seinen Herrn sicher nach Hause bringen, ansonsten … das Gesetz der Berge. Gemeinsam mit den anderen Pilgern umkreiste er das Heiligtum drei Mal, mit der Linken dabei stets ein Gesims streifend, das um das Gebäude herumführte, mit den Fingerspitzen ebenjener Linken wischte er sich danach dankbar übers Gesicht. Nur noch zwei Tagesmärsche bis Samarkand.
    Im Mausoleum saß eine alte Frau mit herbem Gesicht; indem sie betete, begann sich ihr Gesicht aufzuhellen, bis es am Ende leuchtete. Die Stufen treppab zum Grab des Heiligen waren mit Marmorbruch gefliest, auch das Grab selbst, um das herum zahlreiche Pilger saßen. Erstaunlich, daß der Staat das Gebäude nicht längst geschlossen hatte, öffentliche Religionsausübung war in Tadschikistan ja verboten. Der Vorbeter winkte Kaufner freundlich herbei, beplauderte ihn aufs umständlichste, führte ihn schließlich zurück in den oberirdischen Grabbau, um dort voll Stolz den Teppich zurückzuschlagen, eines der Bodenbretter hochzuheben. Man sah auf drei Holzsärge, darum herum haufenweise alte Knochen, Schädel. In den Särgen seien frische Leichen, strahlte der

Weitere Kostenlose Bücher