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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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ein paar Sekunden hätte tot sein können.
    Auch am nächsten, am übernächsten Morgen wachte er auf und – sehnte sich nach dem Sonnenuntergang, wenn mit den Schatten schlagartig die Kälte kommen und er in den Schlafsack zurückkriechen würde. Nach zehn Tagen waren seine Wunden verheilt, an anderer Stelle neue und wieder neue entstanden. Man mußte einfach weitergehen, stur gegen den Schmerz angehen, dann bekam man anstelle des roten Leuchtens an der Ferse eine braunweiß abblätternde Hornhaut, die eher Teil des Schuhs zu sein schien als des Fußes.
    Nach drei Wochen spürte Kaufner seine Beine nicht mehr, nicht die Blutblasen an den Zehen, das Knirschen im rechten Knie, sein Schmerz hatte sich in Schwielen verwandelt und Haß, in tiefe Abneigung gegen Gebirge im allgemeinen, gegen jeden Berg im konkreten, der sich ihm in den Weg stemmte. Und gegen Odina, der mit seinen Gummischlappen vor ihm die Hänge hinauftänzelte, täglich führte Kaufner Haßreden gegen den Jungen. In der Ebene bewegte er sich kaum schneller als ein Schatten, bergauf jedoch hüpfte, sprang, rannte er über die Felsen, als seien sie nur eine schiefe Form von Ebene.
    An der vorsichtigen, bedächtigen Weise, wie er selber seine Schritte setzte, merkte Kaufner, daß er alt war. An die vierzig Jahre älter als Odina. Während der ganz selbstverständlich in die Landschaft einging, überlegte er vor jedem Tritt; einmal, als er’s dem Jungen gleichtun wollte, glitt er prompt ab und konnte sich einen Schmerzensschrei gerade noch verbeißen. Wenn dein Körper nicht jünger werden kann, dachte Kaufner, so muß es wenigstens dein Gemüt werden. Erinnere dich, wie das war, früher. Hör auf zu denken. Geh einfach, geh.
    Er studierte Odinas Bewegungsabfolge, und weil er kein Prinzip darin erkennen konnte, versuchte er, es ihm Schritt für Schritt nachzumachen. Wahrscheinlich gelang es schon deshalb nicht, weil er das langsam Verzögerte des Jungen nicht hatte, das Träge, das sich am Hang ansatzlos in äußerste Flinkheit verwandelte. Vor allem, weil er nicht das Wiegen in den Hüften hatte, das ihn jeden Tag aufs Neue in stumme Wut versetzte, das Schleppende im Schritt, das Aufrechte des Rückens, des Nackens, eine andauernde Provokation.
    Und auch die sanftmütige Art, wie er den Esel beschimpfte, im Grunde ununterbrochen mit ihm redete, als ob er ihm all das erzählte, was er Kaufner verschwieg – »Tschup«, »Brrr«, »Hatsche-hatsche-hatsche«, »Jach«, »Prrrüt«. Nur selten dirigierte er ihn mit seinem Wanderstab, meist ging der Esel voraus, da und dort etwas gelb oder violett Blühendes vom Wegesrand rupfend. Dann sprach Odina mit den Vögeln in ihren jeweiligen Idiomen, schnalzte, trällerte, klackte; sofern er die entsprechende Antwort bekam, lächelte er auf eine abwesende Weise in sich hinein.
    Meist sang er selber, manche der Lieder mehrmals täglich. Wandte er sich ausnahmsweise einmal an seinen »Herrn«, dann auf eine dunkelmilde ernste Weise, waldhaft würzig fast und sentenzhaft kurz. Als wäre er der Herr und Kaufner sein Knecht.
    Um diese Gebirge zu durchqueren, mußte man sich an die Bachläufe halten, und falls es keine mehr gab, an die alten Schäferpfade. Auf ihnen wurden die Herden jeden Frühling bergauf geführt, zu ihren Sommerweiden, und im Herbst herunter; manche der Wege waren mit Kot gut markiert, wohl auch dem der Packesel, die man hier entlanggetrieben hatte. Andre nur mit ein paar aufeinandergetürmten Steinen, die man aus der Distanz entdecken mußte, wollte man in den Geröllfeldern nicht weite Umwege gehen. Kaufner sah keine einzige der Wegmarken, der Junge jede.
    Ja, Odina war einer von denen, die das Wasser in der hohlen Hand halten konnten, ohne daß ein Tropfen zu Boden fiel; ging er durchs Gebirg, formten sich die Felsen von alleine zum Weg. Nur selten geriet er ins Stocken, wenn der vertraute Pfad durch eine Lawine unpassierbar geworden war oder wenn sich die Dorfbewohner eines Tales zusammengetan hatten, um die Pässe rundum zu blockieren. Dann kniete der Junge ab, studierte die Losung der Tiere, die vor ihm einen Weg gesucht, Steinböcke, Wölfe, Leoparden; was immer er finden konnte, zerrieb er zwischen den Fingerspitzen, schnüffelte daran. Gab es nichts zu entdecken, so befragte er den Berg selbst: Bestrich diesen und jenen Felsen mit beiden Händen, legte sein Ohr daran, lauschte ins Innere des Bergs. Zerrieb die Erde zwischen seinen Handflächen und roch daran, kaute sie so lange mit

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