Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
geschlossenen Augen, bis er schmeckte, wo sie herkam und wo sie hinwollte.
Gefragt, wie er solcherart die Orientierung wiedererlangen könne, gab der Junge an, die Berge, die er im Kopf habe, seien genauso hoch wie die, die er nicht im Kopf habe.
Das verstand Kaufner nicht. Versuchsweise legte er sein Ohr auf einen Felsen und lauschte. Wahrscheinlich rief der Berg nach ihm, doch er hörte nur den Wind, der hart daran entlangstrich.
Odina verlachte ihn nicht einmal. Zeigte ihm stattdessen andere Möglichkeiten, sich in den Hochgebirgswüsten zurechtzufinden, Felszeichnungen und Graffiti, besonders auffällige Formationen, aus weißen Steinen gelegte Parolen auf dem einen oder anderen Abhang. Kaufner haßte ihn dadurch nicht minder. Diesen Eseltreiber mit der permanent guten Laune, den ekelhaft gepflegten Händen, dem immerselben langärmligen Hemd (gegen die Hitze, die Mittagssonne, die Zecken). Von jedem Bergrücken aus mußte er versuchen zu telephonieren, aber natürlich waren seine Familienangehörigen niemals gleichzeitig auf einem
ihrer
Telephoniergipfel, welch ein unsinniger Aufwand.
Und niemand konnte das Brot mit einer solchen Ernsthaftigkeit brechen. Oh, wie Kaufner den Jungen haßte.
Als sie nachts die Wölfe heulen hörten, stiegen sie ab, es wurde Zeit, den Rückweg nach Samarkand einzuschlagen. Kaufners Erschrecken über die Steilheit der Berge hatte in den Tälern begonnen, nun kam dasjenige über Bäche und Flüsse dazu. Sie tosten so ungezügelt jähzornig bergab, das Geräusch des Herabstürzens in den engen Schluchten um ein Vielfaches gesteigert, daß es jedes Mal eine große Willensanstrengung war, sie zu queren. Eiskalt waren die Wasser, die von den Gletschern kamen, und wenn man nach einer trittfesten Stelle suchte, konnte man jeden Moment in eine Lücke zwischen den Steinen geraten oder abgleiten und bis zur Brust im Wasser stehen.
»Ich beschütz’ dich«, hatte Shochi beim Abschied gesagt, »ich paß’ auf dich auf«.
In solchen Momenten erinnerte sich Kaufner daran. Hatte er Glück, mußte er grinsen und zog sich klaglos bis auf die Unterhose aus. Öfter heftete er den Blick zu lang auf die Stelle, die ihm Odina zum Queren gewiesen; der Junge ging währenddessen ohne jedes Anzeichen von Groll oder Spott mit dem Esel durch den Fluß, lud das Gepäck am anderen Ufer ab, kam zurück, um erneut mit dem Esel den Fluß zu queren, diesmal mit Kaufner obenauf. Bei jedem Schritt rutschte der Esel mit einem seiner Beine von den Felsen ab, drohte zu kippen. Kaufner fühlte sich hilflos wie ein alter Mann, klammerte sich mit beiden Händen an den Sattelgriff, gewiß ein erbärmlicher Anblick.
»Herr, wir sind Brüder, du und ich, du kannst mir vertrauen.«
Einmal mußte ihn der Junge selber huckepack durch den Fluß tragen, weil sogar der Esel bockte, eine Schande. Danach brach Odina ein paar Stengel vom wilden Rhabarber ab, der am Flußufer wuchs, und sie kauten gemeinsam Stengel um Stengel, schweigend. Ein Falke segelte knapp an ihnen vorbei. In dieser Welt lagen Hölle und Paradies sehr nah beieinander.
Einmal kamen sie durch ein kleines Dorf, dessen Häuser, Ställe und Schuppen bis auf die Grundmauern abgebrannt waren, an den Wänden aufgereiht standen teilweise noch die Kuhfladen zum Trocknen.
Einmal sahen sie, Odina mit bloßem Auge und Kaufner durchs Fernglas, eine ähnliche Wandergruppe, wie sie selber sie darstellten. Odina bedeutete Kaufner, sich nicht zu bewegen und keinen Lärm zu machen.
»Das war so einer wie du, hundert Prozent«, erklärte er, als die Gruppe verschwunden war: Am besten meide man sie alle, man wisse ja nie. Weil Kaufner aber nicht aufhörte, ihm der entgangenen Begegnung wegen Vorwürfe zu machen, blickte er ihn auf eine kindlich intensive Weise an, las in den Falten und Kerben seines Gesichts, ehe er sich zu einem Lächeln entschloß:
»Hast du schon mal einen umgebracht, Herr?«
Kaufner, sprachlos, starrte auf Odinas gepflegte Schaufelhände, malte sich blitzschnell aus, wie er mit bloßen Händen ein Grab aushob.
»Du wirst es lernen müssen.«
Der Junge trug die übliche verhängte Miene zur Schau, mochte dahinter vorgehen, was wollte.
»Das Gesetz der Berge schreibt uns vor –«
»Deine Berge sind weit, Odina! Wir sind nicht im Pamir, hier gilt dein Gesetz nicht.«
»Es gilt überall dort, wo einer von uns ist. Du kannst in den Bergen nur überleben, wenn du bereit bist zu töten oder zu sterben.« Und nach einer Pause: »Auch für einen
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