Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
anders hätte er in Hamburg keinen Schritt mehr vor die Tür setzen können. Die Rastlosigkeit jedoch, die ihn jetzt umtrieb, erinnerte fast ein wenig an die Zeit, da Kathrin und Loretta verschwunden geblieben waren. Er konnte nur den Kopf über sich schütteln. Und hätte
trotzdem
gern gewußt, was mit Odina geschehen war und warum. Als ob nun plötzlich die Monate, da sie die Hochgebirgswüsten gemeinsam durchstreift und vor allem: gemeinsam überlebt hatten, ihr Recht bekamen gegenüber den letzten Stunden, die das alles rückwirkend in ein schiefes Licht getaucht.
»Natürlich gibt’s Krieg, Sher. Denk doch mal an die Bodenschätze in Alaska, nur so zum Beispiel.« Kaufner war am Sofa festgeklebt, hinter ihm an der Wand rauschte der Tapetenwasserfall. Kippte man den Wodka schnell genug, konnte man ihn hören. »Oder warum sonst, meinst du, sind die Russen da einmarschiert?«
Sher saß mit glasig gelben Augen, er konnte gerade noch zustimmend nicken.
»Dann denk an die Bodenschätze in Tadschikistan. Und an das viele Wasser, das von den Gletschern runterkommt.«
»Aber da sind doch längst die Chinesen dran!« bäumte sich Sher gegen das Unvermeidliche auf: »Die haben ja drüben schon alles der Reihe nach aufgekauft!«
Die Chinesen? Besser nicht dran denken, bislang hatten sie stillgehalten. Dafür ging es in dieser Nacht mit den Schießereien los.
Wenngleich nur in den Außenbezirken, man konnte sie in den Medien als Kämpfe rivalisierender Jugendbanden darstellen, selbst wenn es Tote dabei gegeben hatte. Immerhin wurde offiziell davon berichtet, früher hatte man derlei lediglich gerüchteweis gehört. Die Tochter des Präsidenten verkündete in ihrer Eigenschaft als Minister für innere Sicherheit, die Polizeipräsenz in den Städten werde rein vorsorglich erhöht, jeder Bürger sei angehalten, Verdächtiges zu melden. Anschließend stellte sie den neuen Gedichtband ihres Vaters vor, »Leerer Berg«.
Vornehmlich aber wurde so getan, als gehe alles weiterhin seinen geregelten Gang:
Vierfinger-Shamsi war betrunken und schwieg.
Shodeboy war nüchtern und schwieg.
Der Teppichhändler Abdullah redete viel, allerdings nur von der Qualität seiner Ware.
Die Brotverkäuferin Kutbija redete sogar Deutsch, hatte aber keine Zeit für Kaufner.
Lutfi hatte viel Zeit für Kaufner, sein Sohn war inzwischen alt genug, um bei ihm in die Lehre zu gehen, er durfte den Rasierschaum schlagen.
Auf dem Rathaus hatte man noch mehr Zeit für Kaufner. Der Vorsitzende des Gusars hatte ihn dorthin geschickt, die Behörden seien die einzigen in der Stadt, die über alles Bescheid wüßten, über Lebende wie Tote. Wahrscheinlich wollte er nur, daß man im Teehaus
Blaue Kuppeln
wieder in Ruhe Tee trinken konnte. Als Kaufner endlich aufgerufen wurde, war er schon zermürbt. Anstatt nach seinem Anliegen gefragt zu werden, wurde ihm der Paß abverlangt, den er sich zuvor bei Maysara ausgeliehen hatte.
»Gamburg?«
»Gamburg. Brennt öfters, ich weiß.«
Der Beamte sah ihn über den Brillenrand hinweg strafend an, vertiefte sich erneut in den Paß. Es half aber nichts, Kaufner hatte ein Dauervisum, daran war nichts zu bemängeln.
»Was machen Sie hier eigentlich so lang?«
Kaufner mußte grinsen, der Beamte war der erste, der ihm diese Frage stellte.
»Ich hab’ hier Familie, sozusagen.«
»Verstehe, eine kleine Geliebte«, verstand der Beamte auf seine Weise, »sagen wir lieber, Verlobte«.
Kaufner nickte, obgleich er nun in den Augen des Beamten, deutlich am Glitzern zu sehen, als Lüstling dastand. Dann durfte er von dem Sterbenden berichten und wie er verschwunden war, kaum daß er in der Stadt aufgetaucht. Anstatt nachzufragen oder Auskunft zu geben, schob ihm der Beamte seine behaarte Faust übern Schreibtisch zu und ließ sie vor ihm aufschnappen:
»Sehen Sie mal, jeder Finger ist anders.«
Kaufner verstand nicht, der Beamte erklärte:
»Die Menschen auch. Der eine so, der andre so.«
Kaufner verstand erst recht nicht. Ob man einen Blick ins Sterberegister werfen könne? Dabei zog er ein Geldbündel aus der Hosentasche, tat so, als zähle er die Scheine obenhin durch. Der Beamte sah sehr genau zu, lehnte sich dabei jedoch demonstrativ in seinem Sessel zurück, so weit wie möglich entfernt von den Scheinen:
»Stellen Sie sich vor, wir beide würden darin entdecken, daß es … na, zum Beispiel ein Pakistaner gewesen wäre. Oder sonst irgendein Tourist. Welche Konsequenzen das wohl für Samarkand hätte,
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