Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
wirklich etwas Wichtiges sein. Längst war sich Kaufner sicher, daß Odina keines natürlichen Todes gestorben, wer weiß, vielleicht hatte ihn Januzak doch noch erwischt. War er, Kaufner, womöglich mitschuldig an seinem Tod?
»Sagt mir wenigstens eines«, bat er schließlich: »Was passiert mit den Toten, die keiner kennen will?«
»Was soll mit ihnen schon passieren?«
»Wo werden sie bestattet?«
»Die werden nicht bestattet. Die werden verscharrt.«
»Und wo?«
»Dort, wo man … na ja, wo man zum Beispiel die toten Hunde hinbringt.«
Noch immer wollten die Alten nicht so recht. Es dauerte, bis Kaufner herausbekommen hatte, daß sie den Ruinenhügel am Stadtrand meinten. Kaufner ging hin. Die Straße hinterm Bazar hügelan, dann übern Friedhof, immer weiter stadtauswärts, durchs anschließende Grasland, vorbei an den letzten verstreuten Gräbern, den ersten Ruinenfeldern, bis zum Danielgrab. Beständig von einem süßlichen Fäkalien- und Verwesungsgestank umgeben, heute jedoch roch er ihn anders als vor einem Jahr. Auch die Raben, die in Schwärmen einfielen oder krächzend aufflogen, wenn er näher kam, sah er mit anderen Augen. Immer wieder frisch zerwühlte oder aufgeworfene Erde, Reifenspuren, kübelweise Kot. Hier oder da oder dort herumzugraben war völlig sinnlos.
Natürlich hatte Sher nichts von dem Zwischenfall gehört. In seinem Büro roch es nach kaltem Hammeleintopf, nach Zigarettenrauch und Füßen und einem Mann, der vor Aufregung schwitzte. Im Fernsehen dazu die Bilder flüchtender Menschen, hoch beladene Eselkarren, Kleinbusse, auf deren Dächern Männer saßen, schreiende Mütter, die ihre schreienden Kinder vor die Kamera hielten. Im Norden, nahe Taschkent, sei noch ein kleiner Grenzübergang geöffnet, erklärte Sher, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, in Oybek. Es waren Usbeken aus dem unteren, dem tadschikischen Teil des Ferghanatals, die in langer Kolonne herüberkamen. Die Tochter des Präsidenten, dem Anlaß entsprechend als Blondine im züchtig eleganten Kostüm, begrüßte sie »in der Heimat«, flankiert von Dutzenden Kindern, die mit Fähnchen winkten.
»Und was machen die Usbeken im Serafschantal?« fragte Kaufner.
»Bei uns ist die Grenze dicht, die kommen da nicht mehr raus«, entschied Sher, »die müssen selber zusehen, wie sie …«
Mitten im Satz brach er ab, um den Wodka zu holen. Man möge ihn heute entschuldigen, er habe Anlaß zu trinken. In Kirgistan war es in den letzten Tagen ebenfalls zu Ausschreitungen gegen die Usbeken gekommen, allerdings hatten die russischen Besatzungstruppen dort schnell wieder für Ruhe und Ordnung gesorgt. Hingegen in Tadschikistan, Achtung, Kamerad! Die Regierung »drüben« habe das Kriegsrecht verhängt, ansonsten tue sie nichts.
Wie sich die Bilder ähnelten! Nun würde es auch hier losgehen, es war lediglich eine Frage der Zeit. Leider für Kaufner nicht minder, er würde mindestens bis Ende März in der Stadt festsitzen, erst nach der Schneeschmelze konnte er’s wagen, in den Turkestanrücken aufzusteigen. Wenn er dann überhaupt noch aus Samarkand herauskommen würde. Sher mußte sich beim Nachschenken am Christbaum festhalten, von Odina wollte er nichts gehört haben. Der sei nicht von hier, der kümmere ihn nicht. So einer komme aus dem Nichts, so einer verschwinde wieder im Nichts, von seiner Sorte gebe’s sowieso zu viele.
»Ali, sag mal, du kennst dich doch bei so was aus: Glaubst du, es gibt Krieg?«
Sher, so betrunken er auch immer gewesen war, er hatte Kaufner stets mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Nichtsdestoweniger wich er seinen Fragen selbst heute sehr zuvorkommend aus, indem er selber Fragen stellte. Je öfter ihm nachgeschenkt wurde, desto klarer begriff Kaufner, daß er niemals etwas erfahren würde. Sher tat nur so, als unterhielte er sich mit ihm.
Aber mußte Kaufner denn überhaupt noch etwas erfahren, er war sich doch sicher? Warum war er mit einem Mal überhaupt von solcher Sorge um Odina befallen? Hatte er ihm nicht oft genug den Tod gewünscht? Seltsam, seitdem sich der Junge davongemacht hatte, war auch der Haß verflogen, den Kaufner ein halbes Jahr lang gegen ihn gehegt. Die Vorstellung, daß er, obendrein in nächster Nachbarschaft, eines rätselhaften Todes gestorben war, erfüllte ihn mit nagender Unruhe. Ja, wenn es irgendwer gewesen wäre, der da vor seinen Augen krepiert oder, weiß Gott, sogar zu Tode gebracht worden! Daran hatte sich Kaufner gewöhnt, gewöhnen müssen,
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