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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
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sich Sher mühsam, es war wohl schon einige Monate her.
    Der Osten Deutschlands sei jetzt eine Demokratische Republik! wußte Jonibek. Draußen mitfeiern durfte er trotzdem nicht.
    In den Ohren Kaufners, die ein halbes Jahr lang kaum mehr vernommen hatten als Wind, Wasser und Gewitter, dazu das Gekrächz der Raben und den Pfiff der Murmeltiere, tönte der Lärm der Stadt noch am nächsten Tag wie das Weltgericht. Selbst der Polizist, der im Hof sein Frühstück einnahm, schien ihm ungebührlich laut nach Maysara zu rufen, auf daß sie ihm mehr Kartoffelpuffer und Eieromelett auftischte. Nun ja, ein Polizist, zuckte Maysara mit den Schultern, bitte kein Aufsehen, keine Beschwerde. Sofern er’s vorziehe, könne Kaufner gern auf seinem Balkon frühstücken.
    Einige Tage später rumpelte ein Lieferwagen am Teehaus
Blaue Kuppeln
vorbei, der riesigen Schlaglöcher und querenden Abwasserkanäle nicht achtend, ein Stück bergab kam er in einer Staubwolke zum Stehen. Als ihn Kaufner, gefolgt von einigen der Alten, erreicht hatte, war bereits eine Trage aus dem Laderaum gezogen und auf der Straße abgesetzt. Fahrer und Beifahrer klopften ans Tor eines Hauses, riefen so laut nach dessen Bewohnern, daß die Nachbarn aus ihren Höfen heraustraten und auf der Stelle drauflosschwiegen, selbst die Kinder.
    Kaufner stand direkt an der Trage, sah auf die blutdurchtränkte Decke, auf die Füße, die darunter hervorragten, die Gummischlappen, die ihm gleich seltsam bekannt vorkamen. Lauschte dem schwachen Stöhnen, das durch die Decke drang. Beugte sich ganz zu dem herab, der da lag und mit dem Tode rang, sofort trat einer der beiden Männer zwischen ihn und den Sterbenden, hielt Kaufner mit einem Blick auf Distanz. Eine Weile war es ganz still. Plötzlich ein kraftlos stiller Schrei. Nach einer weiteren Pause setzte wieder leis das Jammern ein.
    Endlich wurde das Tor geöffnet, eine Frau mit Kopftuch und Leoprint-Jacke ließ die beiden samt Trage ein. Kaufner fragte sich, in welcher Sprache der Mann nach dem Tod gerufen hatte, auf Russisch, Usbekisch, Tadschikisch? In diesem Moment erinnerte er sich an Odinas Schlappen, natürlich, das waren sie gewesen! Kaufner hatte sie einen Sommer lang mit seinem Haß überzogen, er kannte sie auswendig.
    Die beiden Männer, die wenige Augenblicke später mit leerer Trage aus dem Haus traten, wimmelten ihn jedoch brüsk ab: Odina? Keine Ahnung, sie seien bloß die Fahrer, warum sollten sie seinen Namen kennen?
    Wahrscheinlich ein Flüchtling, ließen sie großzügigerweise noch wissen, als sie schon im Auto saßen: Ein junger Kerl, kaum an die zwanzig.
    Aber woher genau?
    Von der Grenze natürlich, woher sonst!
    Nun war es an Kaufner, mit beiden Fäusten gegen das Tor zu hämmern. Einige der Nachbarn versuchten, ihn wegzuziehen – der Mann liege im Sterben, Kaufner möge es respektieren –, doch die Frau öffnete ohnehin nicht mehr. Kurz darauf fuhr der Notarzt vor. Als er das Haus wieder verließ, verstellte ihm Kaufner den Weg, der Verletzte sei höchstwahrscheinlich sein Freund, er müsse zu ihm!
    Sein Freund? Wohl kaum. Der Arzt wimmelte ihn ab wie jemanden, der nicht für voll genommen werden konnte: Ganz ruhig. Sein Freund sei längst übern Berg, alles in Ordnung, keine Sorge. Mehr dürfe er nicht sagen.
    Am Tag darauf wurde das Hoftor sofort geöffnet, als Kaufner vorstellig wurde, ein breiter Mann im Nadelstreifenanzug trat ihm unwirsch entgegen: Nein, den Kerl, der da antransportiert worden, kenne keiner, noch gestern habe man ihn ins Krankenhaus geschafft. Vielleicht ein Zigeuner, vielleicht einer aus dem Saliniaviertel. Jedenfalls ein Herumtreiber, keiner von hier. Eine Verwechslung, man habe damit nichts zu tun.
    Kaufner schloß die Augen, hörte den stillen Schrei des Sterbenden. Ganz sicher Odinas Stimme, ganz sicher. Im Krankenhaus wußte man von einem Mann, der gestern schwer verletzt eingeliefert, dann ins internationale Krankenhaus verlegt worden. Dort hingegen wußte man von niemand. Das Hamam war geschlossen, blieb geschlossen bis auf weiteres, angeblich wichtiger Reparaturarbeiten wegen, wie man einem Anschlag entnehmen mußte. Sooft er auch wiederkam, Kaufner konnte niemals auch nur einen einzigen Arbeiter entdecken, den er nach Talib hätte fragen können. Im Teehaus
Blaue Kuppeln
schüttelten selbst diejenigen den Kopf, die mit Kaufner gestern hinter dem Wagen hergeeilt waren, nein, sie könnten sich nicht erinnern. Wenn sogar die Alten nicht reden wollten, mußte es

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