Samtpfoten im Schnee
schaute Meghan von Zeit zu Zeit an, als wollte es sich vergewissern, dass sie noch da war.
Justin war, zusammen mit Robert und einem anderen Vater, dazu bestimmt worden, die mit den Kindern besetzten Schlitten zu ziehen.
Irene ging neben Meghan her. »Joy hat dich sehr lieb gewonnen.«
»Ich weiß«, sagte Meghan. »Und so schmeichelhaft das für mich ist, so betrüblich ist es auch.«
»Empfindest du ihre Gegenwart denn als störend?«
»O nein. Niemals. Ich mag Joy sehr gern. Aber was wird sein, wenn ich in die Stadt zurückkehren und aus ihrem Leben fortgehen werde?«
»Wer sagt denn, dass du das musst?«, fragte Irene. »Aber wie auch immer, deine Abreise liegt noch Wochen fern. In dieser Zeit kann viel geschehen.«
Der Rodelberg, dem die Gruppe sich jetzt näherte, lag in der Nähe des Obstgartens, in dessen Hintergrund sich ein dunkler Tannenwald hinzog. Die Sonne stand hell am Himmel und schuf eine Welt glitzernden Schnees, gegen den sich dessen Schatten tief und dunkel abhoben. Ein schwer atmender Justin gesellte sich zu den beiden Frauen, denn es war anstrengend gewesen, einen Schlitten mit drei Kindern darauf den Berg hinaufzuziehen. Während Irene festlegte, in welcher Reihenfolge die Kinder den Berg hinunterfahren sollten, hielten Meghan und er sich ein wenig abseits von den anderen.
»Sogar ohne ihre Blätter sind die Bäume wunderschön«, sagte Meghan im Plauderton. »Seht nur, welch wunderschö-
ne Muster ihre Schatten in den Schnee zeichnen!«
»>Kahle zerstörte Mauern jetzt ...<«, zitierte Justin.
>»... wo unlängst noch die Vögel lieblich sangen<«, beendete Meghan, die es entzückte, dass ihm diese Zeile eingefallen war. »Dieses Sonett ist eines meiner liebsten.«
»Es stimmt melancholisch, wie es vom hohen Alter spricht«, sagte Justin.
»Nein«, widersprach sie. »Es ist ganz und gar bejahend, denn es handelt von der ewig währenden Macht der Liebe.«
»Glaubt Ihr daran?«
»Woran?«
»An die ewig währende Macht der Liebe.«
»Ich denke«, erwiderte Meghan grübelnd, »dass wir alle gern daran glauben würden.«
»Dann ist sie also nur eine Fantasie?«
»Für einige schon.« Und so manchem von uns wurde diese Fantasie durch Betrug zerstört, setzte Meghan im Stillen hinzu, doch es bestand kein Anlass, einen so herrlichen Tag durch solch hässlichen Gedanken zu trüben.
Inzwischen hatten Irene und Robert die Abfahrt der Schlitten organisiert, und Justin wurde dazu ausersehen, die Schlitten anzuschieben und mit einem kräftigen Extraschwung auf ihren Weg den Hügel hinunterzubringen.
Joy stand neben Meghan, während sie darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Sie hatte Meghans Hand genommen, als sie plötzlich lautes Bellen hörten. Fast im gleichen Moment tauchte ein mittelgroßer Hund aus dem Wald auf, der hinter einer Katze herjagte - hinter Joys Schneeflöckchen!
Joy stieß einen unartikulierten Schrei aus, ließ Meghans Hand los und rannte hinter den beiden Tieren her. Meghan folgte ihr, wobei sie das Kind und die Tiere nicht aus den Augen ließ. Als das Kätzchen den Obstgarten erreicht hatte, schoss es auf einen der Bäume hinauf und blieb in der Krone hocken. Der Hund sprang um den Baum herum, versuchte den Stamm zu erklimmen, bellte einige Male, woraufhin das Kätzchen sich noch höher den Baum hinaufflüchtete. Endlich gab der Hund auf und rannte in Richtung der Ställe davon.
Schneeflöckchen saß hoch oben auf einem Ast und schaute aus seegrünen Augen zu Joy und Meghan herunter. Ihr Fell war nass und zerzaust, und sie maunzte jämmerlich.
Joy winkte, damit es herunterkam, und Meghan rief:
»Komm, Kätzchen! Hierher, Schneeflöckchen! Komm zu mir!«
Die Katze hockte reglos im Baum, sie hatte offensichtlich zu große Angst davor herunterzuklettern.
Meghan betrachtete den Baum. Es gab einige Äste, die recht niedrig waren, aber wie sollte sie es in ihrer dicken Winterkleidung schaffen, dort hinaufzuklettern? Doch um Joys willen wollte sie den Versuch unternehmen.
»Du bleibst genau hier stehen«, ermahnte sie Joy. »Ich werde versuchen hinaufzuklettern.«
Sie bewältigte die ersten Äste überraschend leicht. »Komm her, Schneeflöckchen«, lockte sie, und erstaunlicherweise schien das Kätzchen zu verstehen, denn es ging den Ast entlang bis hin zum Stamm. »Gut so. Komm her«, flüsterte Meghan, um das Tier nicht zu erschrecken.
Als Schneeflöckchen näher kam, streckte Meghan die Hand nach ihr aus. Sie hörte, wie der Ast brach, auf dem sie stand.
Weitere Kostenlose Bücher