Samuel Carver 05 - Collapse
Steinsockel. Und dort, ein paar Meter weiter, wartete Jack Grantham, ein bisschen untersetzter als bei ihrer vorigen Begegnung und mit etwas größeren Geheimratsecken. Seine Ungeduld war selbst auf die Entfernung nicht zu übersehen.Carver suchte aufmerksam die Umgebung ab, entdeckte aber niemanden, der annähernd wie ein MI6-Mitarbeiter oder ein feindlicher Beschatter aussah. Ein paar Minuten später stieg er aus dem Bus, ging zur Mitte der Pont des Bergues und von dort auf die Insel und schlenderte auf Grantham zu.
Nach kurzer Begrüßung schaute Grantham demonstrativ auf die Uhr. »Es ist sieben nach zehn. Sie haben sich verspätet.«
Carver ignorierte das. »Was machen Sie für ein Aufhebens um Mykonos?«, fragte er.
Grantham tippte und wischte auf dem Display seines iPhones herum, dann gab er es Carver mit dem Bild eines bekannten Gesichts.
»Erzählen Sie mir, was Sie über den Mann wissen«, verlangte Grantham.
»Er nennt sich Shafik, behauptet, dass er beim pakistanischen Geheimdienst war.«
Grantham brummte zufrieden. »Das ist zur Hälfte richtig. Sein wirklicher Name ist Ahmad Razzaq, aber er ist wie er behauptet ein Ehemaliger des ISI. Hat sich bei unseren amerikanischen Cousins einen ziemlichen Ruf erworben, als er ihnen half, Stinger-Raketen zu den Mudschaheddin zu bringen, während die in Afghanistan gegen die Sowjets kämpften. Aber wie so viele seiner Kollegen half er seinen alten Kumpels auch noch, als die zu Taliban mutiert waren, was nicht so gut ankam. Aber er mischt bei dem Spiel nicht mehr mit.«
»Er hatte eine Frau bei sich, und zwar die, die in dem Restaurant zum Schein erschossen wurde. Sie arbeitet für ihn. Nannte sich Magda Sternberg, wollte von mir aber Ginger genannt werden. Sie ist ein ziemliches Miststück. Sie sollten sie ebenfalls überprüfen. Könnte interessant sein.«
»Möglich«, sagte Grantham und tippte eine Notiz insiPhone. »Aber zurück zu Razzaq. Was sagte er, womit er inzwischen sein Geld verdient?«
»Er arbeitet als Sicherheitsberater für Finanzinstitute.«
Grantham zog fragend die Brauen hoch. »Sicherheitsberater, hm? Das kann fast alles heißen.«
»Hab ich auch mal ein bisschen gemacht.«
»Genau das meine ich. Und was wollte er von Ihnen?«
»Was glauben Sie wohl?«
Ein dezentes Grinsen huschte über Granthams Gesicht. »Wissen Sie, für einen Mann, der jedem erzählt, wie sehr er seine Arbeit verabscheut, scheint es Ihnen schwerzufallen, sich zur Ruhe zu setzen.«
»Razzaq hat mich reingelegt. Er kann mich wegen Mordes anzeigen. Hat extra einen seiner Leute dafür über die Klinge springen lassen.«
»Skrupelloser Bastard«, sagte Grantham anerkennend. »Also, wer ist die Zielperson?«
Carver zögerte kurz, ehe er antwortete. »Na gut … Da ich nicht beabsichtige, den Auftrag auszuführen, kann ich es Ihnen auch sagen. Er will, dass ich einen Amerikaner erledige, einen Finanzmakler. Der Name, den er mir genannt hat, war Malachi Zorn.«
Grantham zog die Stirn kraus. Seine grauen Augen blickten durchdringender. »Er will Zorn umlegen lassen?«
»Das habe ich gerade gesagt, ja.«
»Aber warum?«
Carver zuckte die Achseln. »Er sagte, dass Zorn seine Kunden finanziell schädigt. Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Dass … Razzaq nicht für Finanzinstitute arbeitet, sondern für Malachi Zorn.«
Razzaq hatte gelogen. Tja, das war zu erwarten gewesen. In Carvers Welt war Lügen das Standardvorgehen, Ehrlichkeiteine echte Überraschung. »Dann ist Razzaq so was wie ein Doppelagent«, sagte er. »Oder er wurde auf den Kerl angesetzt, um ihn zu beseitigen, als dessen Angestellter.«
»Das bezweifle ich«, meinte Grantham kopfschüttelnd. »Razzaq arbeitet schon fünf Jahre für ihn, anfangs nur gelegentlich, dann als sein Angestellter. Wenn er den Auftrag hätte, ihn zu töten, hätte er das dann nicht längst getan?«
»Vielleicht ist auch kürzlich jemand an ihn herangetreten.«
»Ich sehe nicht, warum. Zorn bezahlt sehr gut. Der Anreiz, ihn zu hintergehen, sollte gering sein.«
»Wie steht’s mit Erpressung? Ein Mann wie Razzaq hat zwangsläufig schmutzige Geheimnisse in seiner Vergangenheit.«
»Und ein Mann wie Zorn wird ziemlich sicher wissen, welche das sind. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Zorn sich an solchen Dingen stört. Er trifft seine Entscheidungen und handelt danach. Er ist an sozialen oder politischen Konventionen oder an der öffentlichen Meinung gar nicht interessiert – außer er kann damit Geld verdienen.
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