Samuel Koch - Zwei Leben
Das war für uns ein weiterer Schock. Warum durfte er nichts sagen? Das konnte doch nur das Schlimmste bedeuten ...? Als er unsere entsetzten Gesichter sah, merkte der Pfleger wohl, was wir dachten, und da sagte er: ,Die Operation hat Samuel gutgetan!â Das war erst einmal eine gute Nachricht.â
Schwebezustand
Sieben Tage und Nächte war ich in der Düsseldorfer Universitätsklinik.
Einer der Pfleger hieà Mattis und war so alt wie ich. Mattis war es, der mir das beste Glas Wasser meines Lebens gegeben hat â nämlich das erste, das ich nach der künstlichen Ernährung der ersten Tage und dem Luftröhrenschnitt trinken durfte. Ich weià noch genau, was es für ein herrliches Gefühl war, als es meine ausgetrocknete Kehle hinunterfloss, und wie es schmeckte â schön kalt, klar, dezente Kohlensäure. Einfach unvergesslich.
Mattis hat sich unglaublich rührend um mich gekümmert. Wir beteten zusammen, er blieb länger und kam früher, um für mich da zu sein. Er zeigte mir Fotos von seiner kürzlich geborenen kleinen Tochter, deren Patenonkel ich heute sein darf. In diesen sehr dunklen ersten Tagen war Mattis für mich wie ein Engel.
Was die Ãrzte in diesen Tagen feststellten, bescherte mir und meiner Familie eine Achterbahnfahrt aus Hoffen und Bangen. Der Entlassungsbericht der Düsseldorfer Ãrzte schloss noch recht hoffnungsvoll: âSeit dem 9. 12. 2010 zeigt sich eine langsam wiederkehrende Sensibilität zunächst im rechten Arm ... dann in beiden Armen. Seit dem 10. 12. 2010 bemerkten wir eine minimale motorische Reaktion während passiver physiotherapeutischer Ãbungen im rechten Arm und Bein ... Es zeigen sich deutliche Hinweise auf beginnende Wiederkehr der Willkürinnovation und Sensorik.â
Das Wort âgelähmtâ fiel zwar nie, aber ich hatte ein super ekelhaftes Gefühl, mal so, als ob mein ganzer Körper in irgendwas eingepfercht wäre, dann wieder, als ob er durch die Luft flöge oder als ob sich mal mein Bein, mal mein Arm woanders im Raum aufhalten würden, verbunden mit so krassen Schmerzen, dass ich keine Möglichkeit fand, damit klarzukommen. Ich konnte ja nicht strampeln oder aufspringen und dem Schmerz davonlaufen.
Menschen, die GliedmaÃen verloren haben, berichten von Phantomschmerzen in dem Bein oder dem Arm, der ihnen abhandengekommen ist. Mich peinigte dieser Schmerz am ganzen Körper zugleich.
Natürlich gab es beruhigende wissenschaftliche Erklärungen für alles. Mehr als genug Erklärungen, und immer wieder aktualisiert. So sagten mir die Ãrzte zu Beginn der Behandlung: âDu befindest dich in der spinalen Schockphase, das Rückenmark ist zurzeit angeschwollen. Es wird wieder abschwellen.â
Die Prognosen dehnten sich von Nachricht zu Nachricht. Erst hieà es: âEs wird wohl eine Woche dauern, bis die Schwellung nachlässt!â Dann hieà es, es dauere wohl zwei Wochen, dann ging es um sechs Wochen, dann acht, dann die ersten drei Monate.
Eines zumindest habe ich daraus gelernt: Niemand kann mir sagen, ob und wenn ja, wie viel von meiner Bewegungsfähigkeit jemals zurückkommt. Es kann sein, dass sich erst nach zwei Jahren etwas tut. Es kann auf einen Schlag geschehen. Oder in 30 Jahren. Oder nie.
Prof. Dr. P. (Düsseldorf):
Zwei Dinge sind deutlich unterschieden bei Samuel im Vergleich zu fast allen Patienten, die ich mit einer solch schweren Verletzung erlebt habe:
1.Samuel hat einen unglaublichen Blick für die Menschen um ihn herum, auch in dieser Situation, wo er extrem schwer verletzt war. Normalerweise wird die Wahrnehmung von Menschen in solchen Situationen ganz stark eingeengt, nur noch auf sich selbst bezogen. Bei Samuel war das komplett anders: Er war wach, zugewandt, trotz seiner schweren Verletzungen, als ich ihn sah. Er hat gesagt: âWie geht es denn Ihnen, Sie sehen müde aus!â Das hat mich wirklich umgeworfen in dieser Situation. Sehr beeindruckend.
2.Was ihn ebenfalls deutlich unterscheidet: Er hat eine unglaubliche Willenskraft und Energie, etwas zu bewegen. Normalerweise sind Patienten in seiner Lage fast immer sehr, sehr depressiv und kaum zu motivieren, wenigstens die einfachsten Ãbungen zu machen, um vorwärtszukommen. Bei Samuel war es ganz anders, er hat protestiert, wenn die Krankengymnastin ging. Er wollte alles und konnte fast nichts mehr. Dieser Gegensatz war auch für AuÃenstehende extrem
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