Samuel Koch - Zwei Leben
Druck auf das Rückenmark verringern und die Chance eröffnen, dass meine verloren gegangenen motorischen Fähigkeiten zurückkehren könnten.
Später stellten mir Orthopäden Fragen zu diesem Ablauf, die mich verunsicherten: Wurde die Operation wirklich zum bestmöglichen Zeitpunkt angesetzt? Wäre sie früher erfolgt, hätte sie den Druck auf das Rückenmark vielleicht eher reduzieren können und wäre womöglich noch rechtzeitig erfolgt, um mir die Herrschaft über meinen Körper zu bewahren. Doch ob es wirklich so gekommen wäre, das kann im Nachhinein niemand mehr sagen. Und ich kann sowieso nichts mehr daran ändern.
Eine Notgemeinschaft
Während all dieser Vorgänge wichen meine Eltern und Geschwister fast nie von meiner Seite. Und ebenso wenig meine Freunde. Noch heute rechne ich ihnen sehr hoch an, was sie in diesen ersten beiden Tagen in Düsseldorf getan haben.
âSie haben etwas ganz Einfaches gemachtâ, sagt mein Vater. âSie waren nämlich da.â
Spontan versammelten sich meine Freunde in der Eingangshalle der Universitätsklinik. Sie redeten miteinander, sie weinten, sie beteten, sie sprachen meinen Eltern Trost zu. Sie kümmerten sich um meine Geschwister. Ebenso spontan beschlossen sie, die Nacht über bei meinen Eltern zu bleiben, nicht von ihrer Seite zu weichen.
âDa lernte man den Unterschied zwischen professionellem Hotelpersonal auf der einen und den Menschen dahinter auf der anderen Seite kennenâ, erzählt mein Vater.
In dem Hotel, in dem meine Eltern in der Nacht des Unfalls und in den folgenden Nächten untergebracht waren, wurden die Zimmermädchen und Portiers zu Engeln. âSie machten für uns alles möglich, sogar ein spontanes Matratzenlager für all die Freunde, für die es eigentlich gar kein Zimmer mehr gab und die dennoch nicht wegwolltenâ, sagt mein Vater. âDas hat uns sehr berührt!â
Meine Freunde aus Hannover holten sich die Erlaubnis der Schauspielschule, auch am Montag bleiben zu dürfen.
âAm Sonntagvormittag hatte Thomas Gottschalk unsere ganze Familie auf sein Hotelzimmer eingeladenâ, erzählt meine Mutter. âEr sagte uns, wie nahe ihm das alles ging. Zum Abschluss wollte er mit uns das Vaterunser beten, da wir ja ,sehr frommâ seien, wie er meinte. Also haben wir zusammen gebetet. Na ja, mehr geholpert, aber wir haben miteinander für Samuel gebetet! Thomas Gottschalk hat uns damals versprochen, dass er alles für Samuel tun möchte, was in seiner Macht steht. Wir haben bis heute Kontakt.â
Die Nähe und Anteilnahme anderer tat uns allen gut. Mein Onkel kam mitten aus seiner Arbeit durch halb Deutschland angereist, um mich zu sehen, für mich zu beten und in meiner Nähe zu sein. Genauso wie Freunde meiner Eltern.
Mein Vater erzählt: âEs war Sonntag, der fünfte Dezember, mein Geburtstag. Wir kamen gerade von Samuels Bett auf der Intensivstation. Und da standen plötzlich Hartmut und Bärbel im Wartezimmer! Die Presse hatte uns da noch gar nicht gefunden, niemand wusste, wo wir waren. Aber unsere alten Freunde haben sich einfach auf eigene Faust zu uns durchgefragt!â Sofort fielen sich alle in die Arme und hielten sich fest.
Auch bei den Mahlzeiten blieb die verschworene Gemeinschaft aus Familie, Freunden, Helfern und Unterstützern stets zusammen. âEs ging um mehr als Nähe und gemeinsames Fühlenâ, sagt mein Vater. âWir waren wirklich im Leid vereint.â Ein Stück Geborgenheit, Wärme, hemmungslose Nähe. âWir waren besten Gewissens distanzlos, niemand musste jemandem etwas vorspielenâ, beschreibt er diese emotionale Ausnahmesituation. âWir waren nur noch echt. Selbst ein Mitarbeiter des ZDF saà heulend auf dem Boden. Der Arme war abgestellt worden, um sich um uns zu kümmern.â
Und wirklich wich der Mann meinen Eltern nicht mehr von der Seite. Er war überall mit dabei. Meine Mutter nennt ein Beispiel für den unaufdringlichen Hilfseinsatz: âEr ist die ganze Woche über mehrmals am Tag unaufgefordert losgegangen und hat Essen besorgt. Dann gab es im Hotelzimmer Pizza für alle oder was eben sonst aufzutreiben war.â
âIch fühlte mich manchmal ein bisschen an das erste Abendmahl erinnertâ, sagt mein Vater im Rückblick auf die Mahlzeiten, die die Gruppe stets gemeinsam einnahm. âEine lange Tafel. Sehr still.
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