Samuel Koch - Zwei Leben
im Rückblick nur noch schmunzeln.
Ich kann einen anderen Teil der Aufregung auch verstehen. Auf dieser Welt gibt es viele Menschen, die schlimme Unfälle erleiden und ein Leben lang im Rollstuhl sitzen müssen. Es geht ihnen nicht gut. Und sie bekommen weder die Aufmerksamkeit noch die Unterstützung noch die Vielzahl der guten Wünsche, die mir zuteil geworden sind. Natürlich ist das ungerecht â aber daran kann ich aktuell nicht viel ändern. Langfristig zeichnen sich aber Pläne ab, wie ich mich mithilfe der Ãffentlichkeit für die Belange und Probleme ähnlich Betroffener einsetzen kann.
Die Zeichen von Missgunst blieben aber Einzelfälle.
Der Draht nach oben
Noch bevor ich zum ersten Mal wieder richtig klar war, war es mir wichtig, dass meine Freunde darüber informiert wurden, was mit mir los war. Zumal ich auch Gebetsunterstützung gut gebrauchen konnte.
âIn Ordnungâ, sagte mein Vater, âich kontaktiere deine Freunde.â
Ich nannte ihm Namen von Freunden, die mir einfielen, und mein Vater hat mit kriminalistischem Geschick deren E-Mail-Adressen herausgefunden und einen Rundbrief aufgesetzt, der dann so alle zwei, drei Tage in Kurzform die wichtigsten Informationen über mein aktuelles Befinden enthielt.
Mein E-Mail-Postfach lief längst über. Freunde, Bekannte, Kollegen, alte Schulkameraden hatten sich gemeldet und wollten wissen, wie es mir ging und ob sie etwas tun könnten. Auch wenn es sich nicht logisch erklären lässt, hilft es doch irgendwie, wenn man immer wieder Mut zugesprochen bekommt, den man selbst nicht mehr aufbringen kann.
Kuriose Angebote
Neben den Menschen, die ich kenne, haben sich unzählige Leute bei mir gemeldet, denen ich noch nie im Leben begegnet bin. Mittlerweile kann ich die Absender dieser Briefe und Mails grob in folgende Gruppen unterteilen:
Gleichaltrige, die von meinem Unfall besonders betroffen waren.
Mütter, die Kinder in meinem Alter haben.
Ãltere Menschen, die mir aus ihrer Lebenserfahrung heraus Mut zusprachen.
Leute, die ebenfalls Schicksalsschläge erlitten haben und ihren Umgang damit mit mir teilten.
Auch ein paar verirrte Liebesbriefe haben den Weg zu mir in die Klinik gefunden. Das Problem bei diesen und vielen anderen Zuschriften: Offensichtlich erwarteten die Absender eine persönliche Antwort von mir. Und zwar möglichst fix. Das ging so weit, dass sich einige der Absender nach wenigen Wochen darüber beklagten, dass sie noch nichts von mir gehört hatten. Viele waren leider verärgert darüber, dass ich nicht zurückschrieb. Das war wohl eine Verkennung meiner Situation. Abgesehen davon, dass ich nicht in der Lage dazu war und bin zu schreiben, gingen in der Flut der Briefe und im bürokratischen Tohuwabohu auch Meldungen unter, die mir wichtig gewesen wären. Zum Beispiel hatten sich verloren geglaubte Freunde gemeldet und potenziell neue Bekanntschaften aufgetan, mit denen ich gern den Kontakt gehalten hätte.
In einem Fall schlug die Zuneigung, die mir von einer Dame entgegengebracht wurde, ins Absurde um: Eines Tages, als ich schon auf der normalen Station lag, herrschte in der Klinik Aufregung: Eine psychiatrische Klinik in der Schweiz hatte sich mit der Warnung gemeldet, dass eine Patientin aus der geschlossenen Abteilung entwichen sei, die eine Nachricht hinterlassen hatte: âIch befreie Samuel Koch!â
Tagelang blieb die Frau verschwunden. Die Klinikleitung überlegte, wie sie mich schützen konnte. Man muss sich das mal vorstellen: Angenommen, die Dame hätte mich gefunden und wäre mit unklaren Absichten bis zu mir auf die Station vorgedrungen. Was hätte ich dann tun sollen? Wie hätte ich mich wehren können? Rufen und Spucken war wohl das Einzige, was ich noch hingekriegt hätte. Ich war praktisch wehrlos. Dazu kam, dass ich nicht der Wal aus âFree Willyâ war. Ich wollte gar nicht befreit werden!
Die Klinikleitung entschied, dass ich auf der Intensivstation am besten vor Eindringlingen geschützt werden konnte. Dort war anlässlich meines Einzugs in Nottwil ohnehin ein SchlieÃ- und Ãberwachungssystem in die Tür eingebaut worden, eine Ãberwachungskamera und ein Zugangskontrollsystem wurden installiert. Der Grund war damals gewesen, dass man befürchtete, allzu neugierige Pressevertreter könnten versuchen, bis an mein Krankenbett vorzudringen â eine absolut nicht übertriebene Vermutung,
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