Samuel Koch - Zwei Leben
irgendwo hinsetzen, würde ich stumpf umkippen.
Die Tetraplegie hat auch noch viele andere Folgen, die für AuÃenstehende nicht so leicht nachzuvollziehen sind. Durch die Lähmung arbeiten mein Stoffwechsel und mein vegetatives Nervensystem nicht mehr richtig. Das hat unter anderem zur Folge, dass meine Thermoregulierung nicht funktioniert. Meine Körperkerntemperatur ist meist zu niedrig und mir ist eigentlich ständig kalt. Auch nach einem Saunabesuch wird man an mir keinen Tropfen Schweià finden, denn mein Körper hat die Produktion eingestellt. Auch Speichel und Tränenflüssigkeit sind Mangelware. Das wiederum zieht einen Rattenschwanz von Folgeproblemen nach sich, von verminderter Sehschärfe bis hin zu Hautunreinheiten. Auch Zahnprobleme habe ich wegen der geringen Speichelproduktion bekommen, vorrangig aber, weil in der Anfangszeit nach dem Unfall aufgrund der extremen Schmerzen im Hals-Kopfbereich Zähneputzen nur bedingt möglich war.
Zwar kann ich erstaunlicherweise selbstständig atmen, jedoch fangen die Probleme spätestens an, wenn ich mal husten muss. Ich brauche die tatkräftige Unterstützung von mindestens einer Person, die meine erlahmten Bauch- und Atemhilfsmuskeln ersetzt. Dasselbe gilt fürs Niesen und Schnäuzen. Laut sprechen oder gar rufen geht auch nicht mehr.
Durch die mangelnde Bewegung und Belastung drohen meinen Muskeln und Gelenken so klingende Dinge wie Atrophien, Dystrophien und Arthrose. Dagegen kann auch die beste Physiotherapie nur teilweise ankämpfen. Meine Muskeln werden immer wieder von Krämpfen geschüttelt. Das könnte man medikamentös unterdrücken, doch das will ich nicht, denn so arbeiten sie wenigstens ab und zu ein wenig. Anfangs litt ich oft unter Parästhesien (eine Art Phantomschmerz), was aber inzwischen nachgelassen hat.
Meine inneren Organe sind auch von der Lähmung betroffen. Ich empfinde so gut wie kein Hungergefühl mehr, und eine Toilette habe ich seit dem Unfall nicht mehr benutzt. Die Muskelpumpe, die normalerweise das Blut aus den Beinen zum Herzen befördert, arbeitet bei mir ebenso wenig wie eine meiner beim Sturz verletzten Halsschlagadern, die seitdem verschlossen ist. Die verminderte Blutzirkulation führt dazu, dass ich öfters einmal kollabiere. Ãberhaupt bin ich erschreckend anfällig geworden.
Wenn ich liege, muss ich mich auf den Rücken oder maximal die Seite legen lassen, denn auf dem Bauch, meiner Lieblingsseite, zu schlafen, ist mir aufgrund der eingeschränkten Kopfrotation nicht mehr möglich. Einmal liegend, bin ich in dieser Position eingesperrt. Umdrehen kann ich lediglich meine Zunge.
Ich finde, dass Tetraplegie gegen das Grundgesetz verstöÃt. Denn ich musste erkennen, dass die Würde des Menschen sehr wohl antastbar ist.
Die Hilflosigkeit ist mit am schwersten zu ertragen. Alles, was ich sonst einfach gemacht habe, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie, muss ich jetzt zuerst verbalisieren und kommunizieren, damit etwas passiert. So lauten Anweisungen von mir zum Beispiel: âBitte mit leichtem Einsatz der Fingernägel parallel zur Haarwuchsrichtung zwischen Hinter- und Oberkopf kratzen.â
Das beginnt schon morgens mit dem âAufstehenâ. Das ist schnell gesagt, aber langsam getan. Denn ich kann ja nicht selbst aufstehen. Die Menschen, die mich pflegen, müssen jeden einzelnen Körperteil von mir aus dem Bett sortieren. Ich kann dabei wenig tun, auÃer ein Liedchen zu trällern. Dann folgen Morgentoilette, Duschen, Anziehen. Das kann gut und gerne zwei Stunden dauern. So mal eben schnell geht da gar nichts. Jegliche Spontanität ist damit unmöglich geworden. Verschlafen hat noch verheerendere Folgen als früher.
Shakespeare und Stehtisch
Mein Tag ist auch durch die Aufwendigkeit all dieser Abläufe ganz schön voll. Es bleibt schlichtweg weniger Zeit zum Leben. Ich brauche täglich Physio- und Ergotherapie, um beweglich und geschmeidig zu bleiben, die Durchblutung anzuregen, die Gelenke durch Beanspruchung vor Arthrose zu schützen und die erlernten Fähigkeiten zu erhalten und zu optimieren. Wann immer es geht, kommen physikalische Therapie, Wassertherapie, Sauna und Stehtraining dazu sowie mein eigenes Wahlpflichtprogramm von mindestens 90 Minuten Training am motorunterstützten Handfahrrad.
Mein Kopf muss auch in Schwung bleiben. In der Klinik in Nottwil habe ich begonnen, meine
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