Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
der Atacama-Wüste. Dort ist das Valle de la Luna, das Tal des Mondes, wo Temis verschwunden ist. Eine Absence Grand-mal .«
»Sag mal, wovon zum Teufel redest du denn da?«, fuhr ich ihn an, verärgert, dass er einfach so unsere Verabredung sprengte.
»Ich bin kein Mediziner«, fuhr Valdemar fort, ohne meinem Einwurf Beachtung zu schenken, »aber ichweiß, dass es eine Art von Epilepsie gibt, bei der sogenannte Absencen auftreten; man unterscheidet dabei zwischen Petit-mal und Grand-mal . Temístocles litt unter Absencen Grand-mal , der schlimmeren Art. Bei dem Betroffenen trübt sich für einige Stunden das Bewusstsein ein, und er denkt nur daran zu fliehen. Falls er Geld hat, wie mein Freund, rast er womöglich zum Flughafen und kauft sich ein Flugticket zu einem möglichst weit entfernten Ort. Nach einigen Stunden, meist im Schlaf, verschwindet die Absence, und alles, was in den letzten Stunden passiert ist, ist wie ausgelöscht. Stell dir vor, wie verstörend es sein muss, etwa in einem Hotel in Toronto aufzuwachen und weder zu wissen, wo man ist, noch, wie man dort hingekommen ist. So etwas ist Temis mehrere Dutzend Mal passiert. Dank einer Erbschaft ist er in den letzten Jahren in allen möglichen Städten überall auf der Welt aufgewacht. Wenn man das so erzählt, klingt es lustig, aber für den, der darunter leidet, ist es beängstigend, das kann ich dir versichern. Nach dem letzten Grand-mal im Tal des Mondes wusste niemand, wo er steckte. Aber eben habe ich mit einem chilenischen Freund telefoniert, der mir sagte, dass sie ihn gefunden haben. Besser gesagt: Temístocles hat sich selbst wiedergefunden.«
»Also, ich muss dann mal los«, sagte Meritxell und er hob sich.
Als habe er sie gerade erst entdeckt, sagte Valdemar zu ihr: »Wenn du mal in einer unbekannten Stadt aufwachst, ruf uns und wir kommen dich holen. Man weiß nie, wann ein Grand-mal zum ersten Mal zuschlägt.«
UND DAS SCHWEIN?
Sollte sie nicht im letzten Augenblick absagen, wäre es meine dritte Verabredung mit Gabriela. Und immer noch waren wir zwei Fremde füreinander.
Ich wusste lediglich, dass sie in einem Plattengeschäft arbeitete und dass sie in Japan gelebt hatte; dass sie früher Ballettunterricht gehabt hatte und im Klavierunterricht am Spinnerlied gescheitert war. Und natürlich, dass ich verrückt nach ihr war.
Mit dem festen Vorsatz, mich dieses Mal etwas zurück haltender zu geben, machte ich mich auf den Weg zu ihrem Laden. Zu meiner Überraschung erwartete Gabriela mich bereits ausgehfertig auf der Straße. Sie trug einen granatroten Mantel und im Haar einen Reif derselben Farbe.
»Heute macht mein Kollege den Laden zu. Wir können gleich los«, begrüßte sie mich munter.
Es stimmt wirklich, dass Frauen einen immer wieder überraschen, dachte ich, während wir auf die Ramblas traten und das letzte Stück in Richtung Plaça Catalunya hinaufgingen.
»Wollen wir die U-Bahn nehmen?«, fragte ich. »Meinetwegen können wir zu Fuß gehen. Es ist so ein schöner Tag.«
Ich schaute mich um. Um diese Zeit war der Platz bevölkert von in der Sonne sitzenden Touristen und einigen Anzugträgern, die dort ihre Mittagspause verbrachten, rauchten und laut mit ihren Kollegen herumalberten. Ja, es war wirklich ein schöner Tag, und für mich ganz besonders, da ich an Gabrielas Seite ging.
Der Weg zu dem Restaurant führte über den Passeig de Gràcia, wo die Jugendstilbauten als Vorwand dienen, Touristen in Boutiquen mit astronomischen Preisen zu locken. Wir kamen an einer Gruppe Japaner vorbei, die hilflos mit einem Stadtplan herumhantierten, und ich fragte Gabriela: »Wovon hast du in Japan eigentlich gelebt?«
Das schien mir ein unverfänglicher Gesprächseinstieg. So war es sehr viel diskreter als zu fragen, warum sie dorthin gezogen oder wieder zurückgekehrt war.
»Ich habe Englischunterricht gegeben.«
»Im Ernst? Ich hätte die Japaner so eingeschätzt, dass sie nur Muttersprachler akzeptieren. Dann ist dein Englisch wohl ziemlich gut.«
»Gar nicht mal. Ich habe nur das First Certificate . Es ist einfach so, dass in Japan praktisch kein Mensch Englisch spricht, noch schlimmer als bei uns in Spanien. Darum werden verzweifelt Lehrer gesucht, und die Bezahlung ist ziemlich gut.«
»Aber das Leben dort muss doch sehr teuer sein«, sagte ich, während ich zwei nordisch aussehenden Touristen auswich, die den Blick beim Gehen starr auf ein Gaudí-Dach gerichtet hielten. »Dann hast du wohl sehr viel gearbeitet.«
»So
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