Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
viel auch wieder nicht. Ich lebte in Osaka, und damals bin ich so gut wie nie ausgegangen. Wenn ichnicht gerade Unterricht gab, war ich zu Hause in meinem Zimmer und habe gelesen. Drei oder vier Bücher pro Woche habe ich damals verschlungen.«
Wozu lebt man in Japan und schließt sich dann in einem Zimmer ein?, hätte ich sie gerne gefragt. Doch diese Frage schien mir zu persönlich.
»Liest du auf Japanisch?«
»Nein. Sprechen kann ich es, das ist nicht so schwer. Aber die Kanji zu lesen, ist noch mal was ganz anderes. Um das zu lernen, braucht man Jahre.«
»Und in welcher Sprache hast du dann gelesen?«
»Vor allem Englisch. Osaka ist so etwas wie die kulturelle Hauptstadt Japans. Zumindest behaupten das die Menschen dort. Sie sagen, Tokio ist für die Geschäfte da, Kyoto das spirituelle Zentrum und Osaka eben die Kulturhauptstadt. In der Nähe meiner Wohnung gab es eine amerikanische Second-Hand-Buchhandlung. Am meisten habe ich Kurzgeschichten gelesen, ich liebe Short Stories!«
»Du überraschst mich immer wieder. Offenbar ist dein Leben um einiges interessanter gewesen als meins. Was für Autoren hast du denn am liebsten gelesen?«
»Viele, die man heute kaum noch liest, Somerset Maugham zum Beispiel. Aber meine Lieblingsgeschichte ist eine von Graham Greene, sie heißt A Shocking Accident . Die Anthologie, in der die Geschichte abgedruckt war, war das einzige Buch, das ich aus Osaka mitgenommen habe. Die Geschichte findest du sonst nirgends. Soll ich sie dir erzählen?«
Ich nickte und verlangsamte den Schritt. Ich fühlte mich so glücklich an ihrer Seite, dass ich wünschte, der Passeig de Gràcia würde niemals enden oder wenigstensso lang sein wie die Avenida de los Insurgentes in Mexico City, die mehr als vierzig Kilometer misst.
Gabriela begann die Geschichte zu erzählen:
»Der Protagonist ist der Sohn eines erfolglosen Schriftstellers, der als Zeitungsjournalist sein Geld verdient. Da der Mann zudem noch Witwer ist, schickt er den Jungen auf ein Internat nach England, während er selbst als Korrespondent in Italien arbeitet. In der Ferne fängt der Junge an, den Vater zu glorifizieren, stellt sich vor, dass er in Wirklichkeit Geheimagent ist, und sonst noch alles Mögliche. Eines Tages ruft ihn der Internatsdirektor zu sich, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater gestorben sei, wobei er sich beeilt zu versichern, er habe nicht gelitten. Natürlich will der Junge wissen, was seinem Vater zugestoßen ist. Der Direktor will nicht recht mit der Sprache herausrücken, doch der Junge bleibt hartnäckig, und so erzählt er ihm in etwa Folgendes: ›Es war ein sehr sonderbarer Unfall. Dein Vater spazierte durch Neapel und ging unter einem Balkon vorbei, auf dem der Wohnungsbesitzer ein Schwein hielt. Das Schwein war zu dick, weil es zu sehr gemästet worden war. Und gerade als dein Vater unter dem Balkon vorbeikam, krachte ihm der auf den Kopf. Er war sofort tot.‹
›Und das Schwein?‹, fragt der Junge den Direktor. Der wird wütend, weil er die Frage pietätlos findet und schickt den Jungen auf sein Zimmer.
Der Sohn des Journalisten wächst zu einem schwermütigen und einsamen Menschen heran. Er hat eingesehen, dass sein Vater kein Spion war, aber er weigert sich, darüber Auskunft zu geben, wie er starb, denn jedes Mal, wenn er das getan hat, wurde er ausgelacht. Er trägt diesesTrauma still mit sich herum wie eine tonnenschwere Last. Eines Tages lernt er ein Mädchen kennen. Er verheimlicht ihr, dass sein Vater tot ist, weil er weiß, falls sie lacht, wird er sie niemals heiraten können. Doch als sie einmal bei der Tante des Jungen zu Besuch sind, sieht sie dort ein Foto des Vaters und fragt, wer das sei. Die Tante sagt es ihr und erzählt, dass er bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
›Davon hast du mir nie etwas erzählt‹, sagt sie überrascht zu ihrem Freund.
›Dann werde ich dir die Geschichte mal erzählen‹, er klärt die Tante.
Er fängt schon an zu zittern. Als die Tante die Geschichte von dem Unfall zu Ende erzählt hat, fragt das Mädchen: ›Und das Schwein?‹
Da weiß er, dass er die Liebe seines Lebens gefunden hat.«
SCHREIB ES MIR INS KARMA
» Buzzing bedeutet, dass der Laden brummt«, antwortete der Besitzer des Restaurants. »Wir haben es so genannt, damit der Erfolg schon mal weiß, wo es langgeht. Irgendwie muss man ja anfangen.«
Er trug seine Haare, wild und psychedelisch anmutend, in alle Himmelsrichtungen frisiert, passend zum Lokal, das in schwarz
Weitere Kostenlose Bücher