Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
eine dritte tun? Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Ich will nur sagen, dass wir Menschen sind.« »Wie meinst du das?«
»Menschen sind in höchstem Maße widersprüchlich. Du zum Beispiel kaufst dir eine Schachtel Zigaretten, auf der steht ›Rauchen kann tödlich sein‹, und hast dir gerade eine zweite Zigarette angezündet. Dabei willst du gar nicht sterben. Ist das etwa kein Widerspruch?«
Valdemar nahm einen tiefen Zug, als wollte er dem Gesundheitsministerium trotzen. Dann stieß er langsam den Rauch aus und sagte: »Nicht nur, dass wir in einer Trugwelt leben – ich bin auch zu der Überzeugung gelangt, dass es unmöglich ist, eine Erfahrung mit jemand anderem zu teilen.«
»Und wie kommst du darauf?«
»Ich werde es dir an einem Beispiel erklären: Stell dir vor, ich will eine längere Reise machen, weiß noch nicht, wann ich zurückkehre, und du kommst zum Bahnhof,um mich zu verabschieden. Wenn wir uns später über den Abschied am Telefon unterhalten, wird es im Grunde nichts als Täuschung sein.«
»Wieso?«
»Weil wir nicht von demselben Ereignis sprechen wer den, auch wenn wir uns in der Illusion wiegen, dass es so ist. Unsere Erinnerungen werden verschieden, um nicht zu sagen entgegengesetzt sein. Du erinnerst dich an einen Mann, der aus dem Fenster eines sich entfernenden Zuges winkt. Ich dagegen erinnere mich an einen Mann, der regungslos auf dem Bahnsteig steht und mehr und mehr verblasst. Das ist das Einzige, was wir teilen können: das Gefühl, dass der andere immer kleiner wird. Dieser Umstand hat auch Auswirkungen auf unser Empfinden. Wenn du dich physisch von jemandem entfernst, reduziert sich nach und nach auch dessen Präsenz in deinem Unterbewusstsein. So gesehen ist vielleicht das, was auf visueller Ebene geschieht, nur die Vorbereitung auf das, was sich im Denken vollziehen wird. Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt: Eine Erfahrung ist niemals mit anderen teilbar. Sie ist immer subjektiv.«
Beinahe hätte ich ihm Beifall geklatscht. Im Unter schied zu anderen Abenden kam mir Valdemar heute außergewöhnlich klar vor.
»Möchtest du ein Glas Wein?«, bot ich ihm an. »Ich denke, wir werden noch eine ganze Weile hier sitzen und reden.«
DER LEERE RUCKSACK
Ich erwachte im Sessel und brauchte einen Augen blick, um mich zu erinnern, wo ich war, als hätte ich eine Absence erlitten. Das erste Morgenlicht spiegelte sich in zwei leeren und einer dritten halb leeren Weinflasche.
Mein Schädel dröhnte, und beim Anblick meines Wohnzimmer dämmerte es mir, dass ich wohl über unseren Gesprächen eingeschlafen sein musste. Valdemar musste in seine Wohnung hochgewankt sein, jedenfalls war er nicht mehr da, hatte aber seinen Rucksack vergessen, der immer noch auf dem Boden stand.
Bevor ich meinen Körper auf Vordermann brachte, hatte ich das Bedürfnis, die Spuren unserer nächtlichen Sitzung zu beseitigen. Schnell räumte ich die Flaschen und den Aschenbecher voller Kippen weg. Als ich den Rucksack anhob, stellte ich überrascht fest, dass er ganz leicht war. Neugierig öffnete ich den Reißverschluss. Der Rucksack war leer.
Normalerweise trug Valdemar darin ja immer sein Manuskript mit sich herum. Ich hatte ihn den Rucksack die ganze Nacht nicht aufmachen sehen. Wie konnte er also leer sein? Es war natürlich möglich, dass er ihn bereitsleer mit nach unten gebracht hatte. Aber wozu eine leere Tasche?
Ich wankte unter die Dusche und dachte, dass es fast unmöglich war, die Handlungen zweier Betrunkener nachzuvollziehen, vor allem, wenn sie die ganze Nacht herumphilosophieren, was einem doppelten Rausch gleichkommt. Auch Worte können den Geist benebeln.
Zwei Paracetamol und eine kalte Dusche später ließ mein Kopfweh allmählich nach. Ein herzhaftes Frühstück aus Toast und Käse schien mir die beste Methode gegen den Kater.
Es war etwa zehn, als ich noch etwas benommen auf die Straße trat. Ich hatte noch zwei Stunden, um mich zu regenerieren, bevor ich Gabriela treffen würde, die den Vormittag frei hatte. Hätte ich bloß gestern daran gedacht, bevor ich mich mit Rotwein vergiftet habe!, dachte ich, während ich gierig die frische Luft einsog.
DIE AUSWAHL EINES ROMANS
Diesmal wollten wir uns im Café der Buchhandlung Central treffen, der größten im Raval. Da ich etwas früher da war, konnte ich in Ruhe die neuen ausländischen Romane durchstöbern.
Ich schaute mir einen Roman des ukrainischen Kultschriftstellers Andrej Kurkow an. Ein Titel wie Picknick auf dem Eis
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