Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
ich es dir ja, damit du es kennen lernst. Es ist eins meiner Lieblingsbücher.«
Das läuft schief, dachte ich. Jetzt wird sie denken, ich erwarte, dass sie darauf irgendwie reagiert.
»Danke«, antwortete sie und steckte das Buch in die Tasche ihres Wollmantels.
Ich wollte die Situation so schnell wie möglich retten, also trank ich rasch meinen Tee aus und schlug vor: »Wollen wir vielleicht ein bisschen spazieren gehen? Heute ist mein erster freier Tag seit Langem, vielleicht würde mir ein bisschen frische Luft ganz guttun.«
Gabriela nickte abwesend und stand auf, ihren Tee hatte sie noch nicht angerührt. Das hatte ich gar nicht bemerkt. Blöder hätte ich es wirklich nicht anstellen können.
Wir verließen den Buchladen und bogen in die Straße ein, die auf die Plaça dels Àngels mündet. Dort steht ein altes Gebäude mit zwei hohen schlanken Palmen davor, das mir immer sehr gefallen hatte. An diesem Vormittag allerdings schienen sie mir wie zwei traurige, vom Wind gebeutelte Gestalten, wie Gabriela und ich.
»Wie ist Osaka so?«, fragte ich, um das Schweigen zu brechen, das sich zwischen uns breitgemacht hatte.
»Es wird das japanische Venedig genannt, wegen seiner Kanäle. Aber das ist Quatsch. Osaka ist eine moderne Stadt mit vielen Studenten.«
Erneutes Schweigen. Ich fragte nichts weiter, und sie schien auch nicht bereit, die Initiative zu ergreifen wie bei unserem letzten Treffen. Was war bloß los?
Vor lauter Verzweiflung, endgültig alle Hoffnungen begraben zu können, wagte ich einen tollkühnen Schritt. Als wir auf den großen Platz hinaustraten, griff ich nach ihrer Hand. Zu meiner Überraschung zog sie sie nicht weg. Sie blieb nicht einmal stehen. Wir gingen einfach weiter über den Platz, auf dem sich Touristen und Straßenmusiker tummelten.
Ich hatte ihre Hand, die kalt und weich war, genommen, was jedoch nicht bedeutete, dass sie dasselbe mit meiner getan hätte. Statt sie ein wenig zu drücken, um mir zu verstehen zu geben, dass sie die Geste erwiderte, lag ihre Hand leblos in der meinen. Verunsichert erkundigte ich mich: »Stört es dich, wenn ich deine Hand nehme?«
»Mich stört es nicht. Ich will nur nicht, dass es für dich zu viel bedeutet.«
Das saß. Ich ließ ihre Hand los. Jetzt war alles aus, es gab kein Zurück. Und ich war schuld, denn ich hatte nicht genügend Geduld und Selbstbeherrschung gehabt, um nach und nach ihre Freundschaft und ihr Vertrauen zu gewinnen. Jetzt wusste sie von meinen Gefühlen.
Da nun ohnehin alles verloren war, sah ich mich außerstande, dieses Spiel noch weiter zu treiben. Dann schon lieber mit wehenden Fahnen untergehen.
»Gabriela, es tut mir leid, dass ich dich belästigt habe, jetzt und die ganzen letzten Wochen«, sagte ich. »Flirten ist nicht meine Stärke. Ich will ganz ehrlich zu dir sein: Ich glaube nicht, dass wir jemals Freunde sein können.«
» Oh – nein?«, fragte sie erschrocken.
»Versteh mich nicht falsch, ich bin sehr gern mit dir zusammen. Aber ich empfinde zu viel für dich, als dass ich dieses Theater länger durchhalten könnte. Gabriela, entweder du gehst jetzt sofort oder ich küsse dich.«
Mit diesen Worten ergriff ich die Flucht, ohne ihre Reaktion abzuwarten. Während ich vom Platz stürzte, drehte sich alles in mir. Ich kam mir vor wie der lächerlichste Mensch der Welt.
VON OBEN HERAB
Den Rest des Tages marschierte ich wie ein Besessener durch die Stadt und hoffte, irgendwann so müde zu werden, dass ich das Geschehene vergessen würde. Ich verließ das Barrio Raval über den Mercat de Sant Antoni und ging dann Richtung Norden durch das westliche Ensanche-Viertel. Ich erreichte die Avinguda Diagonal – die Trennlinie zwischen dem reichen und dem anderen Barcelona – und folgte ihr in Richtung Norden. Ich wollte nicht nach Hause, dort würde ich mich unweigerlich mit den Ereignissen des Nachmittags auseinandersetzen müssen.
Die Lust, weiter auf der schnurgeraden Diagonale die Stadt zu durchqueren, verließ mich, also bog ich in die Carrer Muntaner ein, die in Richtung Tibidabo nach Norden führt. Die Sonne stand im Zenit, und meine Füße fingen an zu brennen. Während ich Schulmädchen, Anzugträger und Rentner hinter mir ließ, wurde mir klar, dass ich nicht anhalten würde, bis ich die Stadt ganz hinter mir gelassen hätte. Hinter der Plaça de la Bonanova bog ich nach links ab; ich schaute mich nach einer Straße um, die mich weiter den Berg hinaufführen würde. Nicht weit von einer renommierten
Weitere Kostenlose Bücher