Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
dem Nebelmeer blickte ungestört ins Leere, denn die Wohnung war einsam und verlassen.
Ein unbestimmtes Gefühl sagte mir, dass Valdemar nicht zurückkommen würde. Ich durchsuchte ein weiteres Mal die Wohnung und stellte fest, dass alle seine Sachen noch da waren, sogar die Zigaretten. Lediglich das Manuskript fehlte. Das war wirklich äußerst merkwürdig.
Verstört ging ich zurück in die Küche. Unter einer Untertasse klemmte ein Zettel mit einer handschriftlichen Notiz, den ich vorher übersehen hatte:
ICH MUSS WEG. RÜCKKEHR FRAGLICH.
Mit beklommenem Gefühl und schlechtem Gewissen, weil ich nicht aufmerksam gewesen war, legte ich das Auge an die Linse des Teleskops. Vielleicht konnten ja die Sterne irgendeinen Hinweis auf Valdemars Verbleibgeben. Wie von kosmischer Hand geleitet, gab mir das Teleskop den Blick auf den Vollmond frei.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort wie hypnotisiert verharrte und die Krater und die dunklen Meere betrachtete. Ich vermisste Valdemar. Der Gedanke, dass er es irgendwie nach dort oben geschafft hatte, schien mir tröstlich. Ich stellte mir vor, dass er mich gerade in diesem Moment von einem Krater aus durch ein gewaltiges Teleskop beobachtete, das von den Astronauten der Apollo 17 seinem Schicksal überlassen worden war.
DIE NACHT, IN DER DIE WELT UNTERGING
Es war Mitternacht, als ich mich ziemlich aufgewühlt wieder anzog und nach draußen ging, um ein wenig Luft zu schnappen.
Von der Straße aus schaute ich zu den beiden obersten Wohnungen unseres Hauses hinauf. Sie waren zu einer Art Schattenmausoleum geworden. Ich hatte beschlossen zu fliehen, bevor es für immer versiegelt wurde. Ich wollte nicht wie der Mann aus Tokio enden.
Genau über meinem Kopf stand ein riesiger Mond, der sein gespenstisches Licht über die Stadt legte. Gebannt von diesem Schauspiel blieb ich stehen. Ich konnte mich nicht erinnern, den Mond je so nah und so hell gesehen zu haben. Der Satellit sah aus, als sei er zum Greifen nah. Und wenn uns die Schwerkraft nun einen üblen Streich spielte und der Mond auf die Erde stürzte? Eine opferreiche Katastrophe: Der Weltuntergang war angerichtet.
Ob Valdemars Verschwinden etwas damit zu tun hatte?
Ich konnte jedenfalls unmöglich zu Hause bleiben.
Wenn dies die Nacht war, in der die Welt unterging, hatte ich nicht vor, sie im Bett zu verbringen. Vielleicht hatte es etwas mit der mysteriösen Mondnäherung zu tun,dass diese Februarnacht außergewöhnlich warm war. Die Beine schmerzten zwar noch von meinem Stadtmarathon, doch ich hatte ordentlich Adrenalin im Blut, und so marschierte ich los, Richtung Zentrum.
Meine Intuition sagte mir, dass in dieser Nacht noch einiges passieren würde; womöglich sogar der Weltuntergang. Vielleicht stieß in wenigen Stunden der Mond mit der Erde zusammen. Der Abschiedskuss, der eine 4,6 Milliarden Jahre währende Liebesbeziehung beenden würde.
Merkwürdigerweise verspürte ich keine Angst. Da es nun einmal so war, hatte ich die kommende Katastrophe als würdiges Ende meiner bedauernswerten Existenz akzeptiert.
Während ich den Passeig de Gràcia hinunterspazierte, stellte ich fest, dass eine Menge anderer Leute dieselbe Idee gehabt hatten wie ich. Obwohl es beinahe ein Uhr nachts war, waren die Straßen voller Menschen, Familien mit Kindern standen da und starrten fingerzeigend in den Himmel.
Niemand schien beunruhigt, vielmehr waren die Leute fasziniert, und unentwegt wurden Digitalkameras gezückt, um das Phänomen einzufangen. Wie konnten die Menschen angesichts dessen, was da auf uns zukam, derart gut gelaunt sein?
Genervt schwenkte ich auf die Gran Vía ab und ging dann das letzte Stück der Carrer Balmes hinunter.
Ohne auf meinen Weg zu achten, fand ich mich plötzlich vor dem Café an der Kreuzung wieder. Zwar war der Rollladen halb heruntergelassen, aber im Innern brannte Licht. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass falls Valdemarirgendwo auf dieser Welt zu finden war, er eigentlich nur dort drinnen sein konnte.
Nachdem ich mehrere Wochen nicht mehr hier gewesen war, schien das Café mir ein schöner Ort, um den Untergang der Welt zu begehen. Also bückte ich mich und schlüpfte unter der Jalousie hindurch.
17 MINUTEN
Als der Kellner mich unter der Jalousie auftauchen sah, bedachte er mich mit einem unverhohlen grimmigen Blick. Mit der Gewissheit, dass der Weltuntergang mein Verhalten voll und ganz rechtfertigte, stellte ich mich an die Theke und bestellte ein Glas Wein.
»Wir haben
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