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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesc Miralles
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machte ich mich auf und marschierte in großen Schritten die Carrer Balmes hinunter. Bei dem Tempo konnte ich in zwanzig Minuten da sein. Ab und zu hatte ich das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, doch ich hielt den Fieberattacken stand und lief weiter.
     
    Gegen ein Uhr mittags erreichte ich endlich den Laden. Ein träger Verkäufer in blauem Kittel betrachtete das Schienenstück stirnrunzelnd und meinte: »Ich weiß nicht, ob wir die noch haben. Dieses Modell wird schon lange nicht mehr hergestellt.«
    Er verschwand in einem Lagerraum, den ich mir voller Miniaturschienen in allen Formen und Größen vor stellte.
    Während ich wartete, schaute ich mir die Auslagen im Schaufenster an. Eine Lokomotive tuckerte durch eine künstliche Kulisse, und immer, wenn sie ihr Ziel erreichte, schaltete sie das Vorderlicht ein, um dann absurderweise die ganze Strecke rückwärts wieder zurückzufahren.
    »Sie haben Glück«, rief der Verkäufer, als er aus dem Lager zurückkam, und zeigte mir ein Stück Schiene, das genauso aussah wie das, das ich mitgebracht hatte. »Es ist das letzte, das wir von dieser Serie haben. Hätten Sie ein gerades Stück gebraucht, hätte ich Sie mit leeren Händen nach Hause schicken müssen.«
    Schweigend zahlte ich an der Kasse. Der Betrag schien mir lächerlich für eine derart beschwerliche Tour. Der Verkäufer reichte mir die sorgfältig in braunes Papier eingewickelte Ware, und ich verließ den Laden.
    Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, weswegen ich eilig die Hauptstraße überquerte. Ich befand mich kaum auf halber Strecke, als die Ampel auf rot umsprang. Da sah ich sie. Groß und schlank, mit dichten schwarzen Locken, etwa in meinem Alter. Die leicht mandelförmigen Augen und die markanten Sommersprossen auf ihren Wangen beseitigten die letzten Zweifel. Es war nur ein Moment, der Bruchteil einer Sekunde,die wir uns unmittelbar in die Augen sahen. Ihrem überraschten Blick nach zu urteilen, hatte sie mich ebenfalls erkannt.
    Plötzlich schien die Zeit stillzustehen – ein Satori . Ganz deutlich konnte ich mit einem Mal eine Szene aus längst vergangenen Tagen vor mir sehen.
     
    Ein Samstagnachmittag vor etwa dreißig Jahren, den ich längst vergessen glaubte. Wie jedes Wochenende hatten meine Schwester und ich uns bei einer der Stadtvillen auf den Ramblas zum Spielen eingefunden. Die Villa hatte eine große Marmortreppe und viele Ecken und Winkel, die man erkunden konnte. Eine Schulfreundin meiner Schwester wohnte gleich nebenan, es waren immer Kinder aus der Nachbarschaft da, und wir dachten uns alle möglichen Spiele aus. An jenem Tag spielten wir ganz klassisch Verstecken.
    Ich wollte mich unter einer Treppe verstecken, doch da war schon jemand, der die gleiche Idee gehabt hatte. Ein Mädchen von etwa sechs Jahren, so alt wie ich, mit schwarzen Locken und dunklen mandelförmigen Augen, aus denen sie mich neugierig anblitzte.
    »Hast du schon mal einen Schmetterlingskuss bekommen?«, fragte sie mich flüsternd.
    »Nein«, antwortete ich erschrocken. »Was ist das?«
    Sie kam ganz nah zu mir heran, sodass sich unsere Gesichter fast berührten, dann ließ sie ihre Augenlider ein paarmal auf und ab flattern, wobei ihre Wimpern meine Wange streiften.
    Nie hatte ich dieses Mädchen vergessen können. Doch wir hatten uns nicht mehr wiedergesehen – bis zu diesem Augenblick, denn ganz ohne Zweifel war sie es, die mirauf der Straße entgegengekommen war und einen Moment innegehalten hatte, als wir aneinander vorbeigingen. Es war seltsam, aber sie hatte sich seit damals kaum verändert.
    In jenem Bruchteil eines Augenblicks war mir klar geworden, dass ich Gabriela – selbst ihren Namen wusste ich noch – immer geliebt hatte. Dieses Mädchen, das mir unter der Treppe einen Schmetterlingskuss gegeben hatte, war die Liebe meines Lebens, und ich würde niemals mehr für jemanden so empfinden wie für sie. Ich konnte nicht sagen, woher diese Erkenntnis kam. Ich wusste es einfach.
    Das Satori war vorbei, die Ampel stand auf rot, und wir eilten jeder auf seine Straßenseite. Auf meiner Seite angekommen, drehte ich mich um und sah, dass auch sie – mit einem zarten Lächeln – über die Schulter blickte, bevor sie ihren Weg fortsetzte.
    Ich hätte sie gerne aufgehalten, sie gefragt, was sie so machte, sie vielleicht sogar auf einen Kaffee eingeladen, doch der Verkehr rollte wieder an, und der Weg in die Vergangenheit war abgeschnitten.
     
    Ich muss den Arm gehoben haben, denn ein Taxi

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