Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
falsch.«
Mishima leckte sich die Pfote und begann sich das Gesicht zu putzen. Offenbar saß sie nicht zum ersten Mal unter diesem Tisch.
»Wem gehört sie dann?«, fragte ich.
»Die Katze gehört sich selbst, genau wie Sie und ich.«
Dem Alten schienen solche Spitzfindigkeiten zu gefallen, ich jedoch konnte so etwas noch nie ertragen. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und ihn mit der Katze, wem auch immer sie gehörte, allein gelassen.
Doch irgendetwas hielt mich zurück, als hätte man mir die Fersen ans Parkett genagelt. Während der Alte erneut auf den Computer einhämmerte, wanderte mein Blick noch einmal zu der Spielzeugeisenbahn und dann zu dem Buch, auf dessen Cover eine schwebende Erdkugel abgebildet war.
»Dieses Buch hatte ich auch mal, aber ich habe es verschenkt«, sagte ich beiläufig und wunderte mich über mich selbst, weil ich jemandem, den ich gar nicht kannte, so etwas auf die Nase band.
»Wieso denn das?«, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Es ist ein großartiges Buch.«
»Die Wissenschaft deprimiert mich. Es ist doch zum Verzweifeln, dass wir nichts als ein Klumpen Atome sein sollen, der auf seine Auflösung wartet. Zu wissen, dass die Atome sich dann wieder neu zusammensetzen, umeinen Misthaufen zu formen oder, mit ein bisschen Glück, ein Champignonfeld, ist mir kein Trost.«
»Offenbar haben Sie rein gar nichts verstanden«, spöttelte er, während er den Laptop ausschaltete und behutsam zuklappte. »Die Wissenschaft ist der kürzeste Weg zu Gott. Wenn man sich die Biografien der großen Wissenschaftler ansieht, stellt man fest, dass das im Grunde alles Mystiker waren.«
»Mag sein, aber das hat nichts mit dem zu tun, was ich meine. Was mir nicht behagt ist, dass sich meine Atome und Moleküle 650 000 Stunden, nachdem sie sich zusammengetan haben, um meinen Körper zu formen, wieder zerstreuen und ohne meine Erlaubnis irgendwelche anderen Dinge bilden.«
»Aber Atome und Moleküle sind – nichts.«
»Ach, ich dachte, sie wären alles«, ging ich zum Gegenangriff über. »Mit Ausnahme des leeren Raums, natürlich. Immerhin ist der leere Raum allgegenwärtig, sowohl im Universum als auch auf Molekülebene.«
»Vergessen Sie den leeren Raum. Im Moment scheint mir das Leerste hier Ihr Kopf zu sein.«
Gespannt musterte er mich und wartete meine Reaktion ab. Doch ich schwieg. Der Mann begann mich zu faszinieren. Dann fuhr er fort: »Atome sind wie Buchstaben. Dieselben Buchstaben, aus denen die Lieder des Kabir oder die Bibel bestehen, dienen dazu, irgendwelche Schundzeitschriften oder Werbebroschüren für Haarwuchsmittel zu bilden. Sehen Sie, worauf ich hinauswill?«
»Nein.«
»Okay, ein anderer Vergleich, Sie scheinen ja etwas schwer von Begriff zu sein. Ein und dieselben Steine könnenzum Bau der Sagrada Familia oder für die Mauern von Auschwitz verwendet werden. Entscheidend sind nicht die Steine, sondern was wir damit machen. Verstehen Sie jetzt?«
»Ich denke schon.«
»Egal, ob es sich um Steine, Buchstaben oder Atome handelt, es kommt immer darauf an, wer sie anordnet und wozu er sie einsetzt. Anders ausgedrückt, es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern was wir aus unseren Ressourcen machen. Es ist egal, ob man 650000 Stunden lebt oder sechseinhalb. Die Anzahl der Stunden allein nutzt einem nichts, wenn man nicht weiß, was man damit anfangen soll.«
Er schwieg und ich wusste nicht, was ich noch erwidern sollte. Ich war beeindruckt; eine solche Argumentation hatte ich von dem mürrischen Alten aus der Wohnung über mir nicht erwartet. Als das Schweigen langsam unangenehm zu werden begann, sagte ich:
»Sie sind Wissenschaftler?«
»Kalt, ganz kalt.«
»Philosoph?«
»Eiskalt. Ich bin ein einfacher Redakteur, der gerne mal an den äußeren Rändern der Wissenschaften kratzt.«
»Redakteur ... Das heißt, Sie schreiben Artikel, nicht wahr?«
»Wenn ich Artikel schreiben würde, hätte ich gesagt, ich bin Journalist. Aber ich sagte: Redakteur. Ich nehme alle möglichen Texte und stelle daraus Bücher zusammen, die die Verlage bei mir bestellt haben.«
»Wenn Sie das so sagen, klingt das ziemlich einfach«, meinte ich und nahm, ohne zu fragen, auf dem Sofa Platz.»Das ist es auch, wenn man die Quellen kennt, dasheißt, wenn man weiß, wo man suchen muss. Wenn ich eine Anthologie mit Liebesgedichten zusammenstellen soll, weiß ich, welche den Lesern am besten gefallen und wo ich sie finde. Wenn man ein Handbuch für
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