Samuraisommer
du
keinen Nachtisch.“
„Ich möchte ja auch keinen.“
Ich hob den Blick und sah sie an. Dumm wirkte sie nicht. Sie lächelte
ein seltsames Lächeln, als wollte sie mich auf den Arm nehmen.
„Ich möchte noch lange etwas von dieser leckeren Leber haben“, sagte
ich. „Ich möchte den Geschmack genießen.“
„Wenn wir zurückkommen, hast du deinen Teller leer gegessen“, sagte
sie und das Lächeln war verschwunden.
„Was willst du jetzt machen, Kenny?“, fragte Klops, als die beiden
sich entfernten und neue Opfer suchten.
„Das Essen genießen“, sagte ich.
„Und wie?“ Klops lachte auf.
„Es geht natürlich nicht um den Geschmack“, sagte ich. „Schieb deinen
Teller rüber, Klops.“
„Was?“ Er schaute auf den roten Matsch auf seinem Teller. „Was willst
du damit?“
„Gib mal her“, sagte ich und schob die Leber von meinem Teller auf
seinen. Als die Suppenoberfläche sich geglättet hatte, war die Leber nicht mehr
zu sehen. Mein eigener Teller war sauber.
Ich schob den vollen Teller zu Klops zurück.
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte er.
„Wart's ab“, sagte ich.
„Ich wollte den Nachtisch aber essen“, sagte Klops.
„Du hast ihn doch noch.“
„Aber Leber will ich nicht mehr“, sagte er.
„Sag ihnen, dass Leberstückchen drin waren“, sagte ich.
„Ob die das glauben?“
„Nein.“
„Du bist gemein, Kenny.“
Er war kurz davor, in Tränen auszubrechen, als fürchtete er, an meiner
Stelle bestraft zu werden. Aber ich gehörte nicht zu denen, die es zuließen,
dass andere für mich bestraft wurden.
„Ich will nicht die Schuld kriegen“, fuhr Klops fort.
„Reich den Teller weiter“, sagte ich.
Ich nickte zu dem Tischende, wo die Betreuerinnen mit ihrem
Suppenkessel schon gewesen waren. Alle schienen die Blutsuppe runtergewürgt zu
haben. Die Teller waren einigermaßen weiß bis auf ein paar rote Flecken.
Klops sah sich um. Dann flüsterte er dem Jungen an seiner rechten
Seite etwas zu, sie tauschten die Teller und Klops' Teller begann zu wandern.
Ich drehte mich um, um festzustellen, ob die Köchin oder die Alte uns
beobachteten, aber die einzigen Erwachsenen im Saal waren die Betreuerinnen
mit der Suppe, und die hielten sich inzwischen am anderen Tisch auf.
Schließlich kam der Teller am Tischende an. Er stand vor einem
Mädchen, das Ann hieß. Ann hatte braune Haare und eine Stupsnase und wirkte
dadurch etwas hochmütig, aber ich glaube, das war sie nicht. Sie sah überrascht
aus, obwohl ihr klar gewesen sein musste, was passieren würde. Die Wanderung
des Tellers zum Tischende hin war ihr nicht entgangen.
Plötzlich erhob sie sich mit dem Teller in der Hand und ging zu einer
der Betreuerinnen, die fast fertig waren mit dem Austeilen. Ich konnte von
meinem Platz aus nichts sehen und auch nicht hören, ob Ann etwas zu ihr sagte.
Klops hörte auch nichts. Er wirkte nervös. Mir war etwas mulmig. Ich
hatte nicht gewollt, dass ihr etwas passierte, ich hatte nicht einmal gewusst,
dass sie es war, die am Tischende saß, aber jetzt würde es Klops oder sie
treffen.
Ann nickte der Betreuerin zu, drehte sich um und kam zurück, auf uns
zu, und ich erwartete, dass sie den Teller vor uns hinstellen würde. Aber sie
sah uns nicht einmal an, weder Klops noch mich. Sie ging weiter in die Küche,
kehrte ohne Teller zurück und setzte sich wieder auf ihren Platz, als ob nichts
passiert wäre.
„Was hat sie wohl gesagt?“, fragte Klops. „Zur Betreuerin.“
Ich antwortete nicht. Ich versuchte festzustellen, ob Ann in unsere
Richtung schaute, aber sie guckte nur vor sich hin.
„Nun hast du deinen Teller also leer gegessen, Tommy.“
Ich hörte die Stimme nah an meinem Ohr, so laut, dass mir fast das Trommelfell
platzte.
„Aber jetzt ist der Nachtisch alle“, sagte sie.
„Wie schade“, sagte ich.
„Ich hätte auch gern etwas gehabt“, sagte Klops. „Du hast doch schon
eine Portion bekommen“, sagte die Betreuerin.
„Das hab ich ni...“, begann der Blödmann und ich trat ihn gegen das
Schienbein. „Aua!“
„Was ist?“, fragte die Betreuerin.
„Ni... nichts“, stotterte Klops. „Vielleicht eine Mücke.“
„Hier drinnen gibt's keine Mücken“, sagte die Betreuerin.
„Nun wollen wir uns für das Essen bedanken“, sagte die andere Betreuerin
und wir mussten aufstehen.
„Dir sei für Speis und Trank, für alles Gute Lob und Dank.“
Wir verließen den Speisesaal. Dank für Speis und Trank, die Hälfte
kotzt, der Rest ist
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