San Miguel: Roman (German Edition)
Akkorde und die kunstvoll gezupften Töne einer Melodie –, und unwillkürlich wandte sie den Kopf.
Es war Rafael. Er stand vor der Treppe zur Baracke und hatte einen Fuß auf die unterste Stufe gestellt. Er stützte die Gitarre auf seinen Oberschenkel, und die Finger der einen Hand tanzten über ihren Hals, während die der anderen langsam und mit Nachdruck über die Saiten strichen. Die Scherer, unter ihnen auch Jimmie, saßen wie Statuen auf der Bank entlang der Wand. Rafael sah konzentriert auf seine Hände. Alle anderen beobachteten Edith.
Der Rhythmus wurde stetig schneller und schien nach irgendeiner Art von Höhepunkt zu streben, und dann hob Rafael den Kopf, sah über den Hof zu ihr und begann zu singen:
Si tu boquita morena
Fuera de azúcar, fuera de azúcar,
Yo me lo pasaría,
Cielito lindo, chupa que chupa.
Sie wusste nicht, was das Lied oder die Worte bedeuteten, aber als er aus voller Kehle den Refrain anstimmte – Ay, ay, ay, ay –, wusste sie, dass er nicht für seine an der Wand aufgereihten Landsleute oder für ihren Stiefvater in seinem Haus oder für die Schafe mit ihrer Wolle oder für das staubige, hügelige Buschland sang, sondern für sie, nur für sie.
Die Scherer sollten zwei Wochen bleiben, dann würde das Boot sie abholen, und sie würden dorthin zurückkehren, woher sie gekommen waren, bis die Wolle der Schafe nachgewachsen war und sie aufs neue die Runde machten. Sie hatte vor, mit ihnen zu fahren. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte, doch sie achtete auf Rafael, ermutigte ihn, wo sie nur konnte, streifte ihn, wenn er zum Essen hereinkam, warf ihm Blicke zu und saß jeden Abend draußen, um ihn singen zu hören, bis ihr Stiefvater auf die Veranda trat, ausspuckte, sich eine Zigarre anzündete und sie hereinrief. Sie musste vorsichtig sein – ihr Stiefvater war jetzt, da andere Männer auf der Insel waren, wachsamer denn je, und Jimmie folgte ihr wie ein Schatten. Jimmie . Der Feind hieß jetzt Jimmie, daran gab es keinen Zweifel.
Nach jenem ersten Abend bot Rafael ihr keine Hilfe mehr an, und zwar nicht, weil er es nicht wollte – er war höflich und wohlerzogen, das sah sie –, sondern weil die anderen ihn nicht ließen. Bei Tisch machten sie sich über ihn lustig, und was sie zu ihm sagten, wenn sie unter sich waren, konnte sie nur vermuten. Sollten sie ihren Spaß haben. Es waren rauhe Männer, dumm und ungebildet, und ihre Kenntnis der Welt beschränkte sich auf Schlafbaracken und Schafpferche. Aber er war anders. Und sie wusste, dass er sie mochte. Es war eine Sympathie zwischen ihnen – oder nein, es floss ein Strom, so stark und elektrisierend wie nur irgend etwas, was ein Magnet und eine Kupferdrahtspule erzeugen konnten. Er sah gut aus, er war, was die Mexikaner als guapo bezeichneten: Mit seinen überraschenden Augen, seiner Größe und der aufrechten Haltung, mit den hervortretenden Muskeln der Unterarme, die aus den aufgekrempelten Ärmeln hervorsahen, und seinem verstohlenen Lächeln, das für sie allein bestimmt war, stach er heraus wie ein Prinz unter Bauern.
Gegen Ende der zweiten Woche, am letzten Tag der Schur – sie zählte die Tage, nervös und ungeduldig, und bei dem Gedanken, diese Gelegenheit könnte ungenutzt verstreichen, wurde ihr regelrecht übel –, steckte er ihr, als er mit den anderen zum Essen kam, eine Nachricht zu. Sie hatte wie immer auf der Veranda die Glocke geläutet und stand da, um die Männer zu begrüßen, als sie die Stufen heraufkamen. Er ließ sich absichtlich Zeit und war der letzte. Als er sich an ihr vorbeischob, bewegte sich seine Hand blitzschnell. Sie spürte die Wärme seiner Berührung, und dann schmiegte sich ein zweimal gefalteter Zettel wie eine Hostie in ihre Hand. Sie ging damit auf der Stelle durchs Zimmer, den Vorraum und in die Küche. Komm zu mir , stand da. Mitternacht. Hinter dem Abort.
Es war ein Kinderspiel, sich aus dem Haus zu schleichen. Ihr Stiefvater, erschöpft vom Zusammentreiben der Herde und der Schur – und er war, allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz, ein alter Mann –, hatte auf Whiskey und Kartenspiel verzichtet und war früh zu Bett gegangen. Um neun, als sie die Lichter löschte und auf ihr Zimmer ging, hörte sie ihn donnernd schnarchen, und das tat er immer noch, als sie um Viertel vor zwölf auf Zehenspitzen die Treppe hinunter- und hinaus in die Nacht schlich. Sie zog leise die Tür hinter sich zu, stand reglos auf der Veranda und lauschte. Nichts.
Weitere Kostenlose Bücher