San Miguel: Roman (German Edition)
zwischen dem Fenster im ersten Stock und dem nächsten Baum abgeschätzt, aber Mrs. Cawthorne war wie ein Wachhund, und ihr Stiefvater war noch schlimmer: Er war Argus mit den hundert Augen und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Mechanisch ging sie zwischen Schrank und Bett hin und her, packte ihren Koffer und lauschte den Stimmen, die von unten heraufdrangen.
»Ich möchte Ihnen danken«, sagte ihr Stiefvater. Er hielt inne, und sie stellte sich vor, wie beide befriedigt nickten: Die Gefangene war in ihrer Zelle – gut gemacht. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie ein Auge auf sie gehabt haben.«
Und dann Mrs. Cawthornes harte, ausdruckslose Stimme: »Ja, aber ich fürchte, es wird das letztemal gewesen sein.«
»Und warum das? Sie denken doch nicht etwa daran, Ihre Pension zu schließen, oder?«
»Nein, gar nicht, ganz und gar nicht. Es ist nur ... Nun ja, ein Mädchen braucht eine Mutter, tut mir leid, das sagen zu müssen. Ich meine, sie achtet nicht auf sich. Ihre Kleider, ihre Frisur, ihre Schuhe, ihr Korsett – sie ist unordentlich. Ganz und gar nicht das, was ich von einer jungen Dame erwarte.«
Ihr Stiefvater sagte etwas Entschuldigendes – die Insel, das Wetter, das rauhe Leben –, doch Mrs. Cawthorne wischte das beiseite. »Hier geht es um ein bestimmtes Niveau«, sagte sie. »Ich muss an meine anderen Gäste denken. Und an meinen Ruf.«
Das war’s dann also. Sie war verurteilt. Ihr Stiefvater rief nach ihr: »Herrgott, Edith, würdest du dich bitte beeilen? Wir können Charlie nicht den ganzen Tag warten lassen!« Sie trat vor den Spiegel, strich das Haar zurück und musterte sich. Es stimmte. Ihr Haar war ungewaschen, ihr Kleid kaum besser als eine Flickendecke. Ihr Gesicht war von der Sonne gebräunt und sah aus, als wäre es in einem Fass gefärbt worden. Ihre Augen waren wie die einer Verrückten. Sie war eine Wilde, wie Jimmie, wie Caliban – oder nein, schlimmer, denn sie hatte sich von ihm berühren lassen, als stünden sie und er auf derselben Stufe, als wäre sie seine Frau. Nicht Miranda, nicht einmal Sycorax, sondern schlimmer, viel schlimmer: Mrs. Caliban.
DIE SCHERER
Die Scherer kehrten im August zurück, und diesmal war unter ihnen ein neues Gesicht. Sie hatte sie gar nicht kommen sehen: Eines Nachmittags blickte sie auf, und da waren sie, vor dem Fenster, und standen mit zusammengerolltem und geschultertem Bettzeug und hungrigen, gierigen Blicken auf dem Hof, und ihr einziger Gedanke war, wie viel zusätzliche Arbeit diese Männer sie kosten würden. Es waren fünf, oder nein, sechs, und jeder von ihnen vertilgte täglich drei Pfund Fleisch, einen Stapel Tortillas und eineinhalb Liter Wein, der allerdings, zur Vermeidung von Unruhe und Streit, mit Wasser verdünnt werden musste und von dem jeder bis zum Abendessen nur ein Glas bekam, darüber wachte ihr Stiefvater streng. Sie trugen breitkrempige Strohhüte, die Sombreros hießen und so hart wie Blech und derart speckig waren, dass sie einen stumpfen grauen Schimmer hatten, dazu mexikanische Stiefel mit hohen Absätzen und schmuddelige, keck umgebundene Halstücher, offenbar der einzige Farbfleck, den sie imstande waren zu ertragen. Die meisten erkannte sie auf den ersten Blick wieder: hagere, schweigsame, zurückhaltende Männer in den Dreißigern und Vierzigern, die eine Mischung aus Spanisch, Italienisch, Englisch, Portugiesisch und möglicherweise Indianisch sprachen – sie verstand es nicht und wusste nur, dass es weder Französisch noch Deutsch war, und dieser Gedanke erfüllte sie mit um so größerer Sehnsucht nach dem Leben, das man ihr genommen hatte.
Natürlich erkannte sie sie – immerhin hatte sie bis zum Umfallen gearbeitet, als sie Ende Februar dagewesen waren. Der da mit den Lederchaps war Luis, und neben ihm stand Rogelio und spuckte schweigend auf den Boden, und wie hieß der da noch gleich, mit dem spitz zulaufenden Gesicht, das wie ein Schaufelblatt aussah? Der Italiener. Sie nannten ihn nur El Italiano. Aber – und hier stockte ihr einen Moment der Atem – es war ein Neuer unter ihnen, ein junger Mann mit einem glatten, faltenlosen Gesicht und einer Gitarre, die er auf sein Bettzeug gebunden hatte. Er stand bei den anderen und ließ den Blick über die Hühner, die Scheune, die Baracke, den Schweinestall und die mit Schafen gesprenkelten Hügel schweifen, die vermutlich exakte Gegenstücke der mit Schafen gesprenkelten Hügel auf allen anderen Inseln waren, nichts Neues unter der Sonne. Aber was
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