San Miguel: Roman (German Edition)
Curners Schiff, sondern das von Lawrence Chiles, und das war ein Glück, denn sie wusste nicht, was Charlie Curner tun würde, wenn er sie an Bord entdeckte), würde Rafael behaupten, er habe etwas vergessen: seine Gitarre, die er absichtlich hinter einem Felsen am Strand abstellen würde, nicht so schlimm, nur zehn Minuten Verzögerung, und die anderen würden auf ihn warten, sie müssten auf ihn warten. Sie würde sich, unter seinem Umhang verborgen, im Dingi verstecken, und wenn sie beim Schiff anlangten, würde sie möglichst unbemerkt an Bord gehen. Und wenn einer der Männer sie sah, würde er sich nichts dabei denken, denn das ging nur Rafael und sie etwas an. Sie war achtzehn. Sie war eine Frau. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.
Mittagessen. Es gab zusätzliche Portionen Wein, unverdünnt diesmal, denn sie hatten ja etwas zu feiern: Die Arbeit war getan, und sie konnten heimfahren, und vielleicht hatten sie Familien – Frauen, Mütter, Schwestern, Töchter, Söhne. Sie trug das Essen auf und zog sich dann zurück, und obgleich sie Rafael tief in sich spürte wie ein Feuer, sah sie ihn ebensowenig an wie beim Frühstück. Im Haus wurden Hände geschüttelt, auf dem Hof wurden Abschiedsworte gerufen, der Hund bellte aufgeregt, die Hühner rannten durcheinander, und dann waren die Männer verschwunden. Jimmie und Adolph gingen auf die Felder, während Edith in der Küche blieb, um zu sehen, was ihr Stiefvater tat. Sie betete, dass er es sich nicht in den Kopf setzte, zum Strand zu gehen, um die Scherer zu verabschieden, doch nach einer Weile drehte er sich um und kam wieder ins Haus. Sie hörte ihn die Treppe hinaufgehen, dann das Öffnen und Schließen der Tür und schließlich das Knarzen von Bettfedern. Er hatte Wein getrunken, eine ganze Menge Wein – sie hatte dafür gesorgt, dass sein Becher stets voll war –, und nun hielt er ein Mittagsschläfchen.
Als sie die Stelle erreichte, wo sie den Koffer versteckt hatte, sah sie, dass die Scherer bereits auf dem Schoner waren, der so ruhig im Wasser lag, als ruhte er auf Pfeilern, und sich kaum hin und her wiegte. Die Sonne schien. Das Meer glitzerte. Aus der Ferne sahen die Männer aus wie Streichholzmännchen. Sie nahm den Koffer und rannte die Straße entlang. Ein Ruderboot, in dem nur ein einziger Mann saß, setzte zum Strand über.
Auf dem Serpentinenweg zum Strand war der Blick auf die Bucht und das Boot mal frei, dann aber wieder von der felsigen Hügelflanke verdeckt. Der Koffer zerrte an ihr – sie hatte ihn ganz voll gepackt, sogar die Bücher hatte sie mitgenommen, und dann hatte sie sich darauf knien müssen, um ihn verschließen zu können –, aber sie ging, so schnell sie konnte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie wechselte den Koffer von einer Hand zur anderen, bis er wie ein Pendel schwang und sie voranzog. Und dann kam sie um die letzte Kurve und sah Rafael, der in dem Boot saß und ruderte, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was sie da sah. Er ruderte nicht zum Strand. Er ruderte zum Schiff. Zurück zum Schiff. Und am Bug des Boots konnte sie ganz deutlich den von der Sonne gedunkelten Hals der Gitarre ausmachen, der aus dem schützenden Umhang ragte.
Sie ließ den Koffer fallen und rannte. Sie schwenkte die Arme. Er war hundert Meter vom Strand entfernt und legte sich in die Riemen, und sein Gesicht war ihr zugekehrt, doch er hatte den Sombrero tief in die Stirn gezogen, so dass sie es nicht erkennen konnte. Sie rief seinen Namen. Sie raffte die Röcke und watete in die Brandung – sie würde schwimmen, schwimmen oder ertrinken –, doch er ruderte nur um so schneller. Die Brandung rollte heran. Sie war vollkommen durchnässt, die Röcke wickelten sich wie eine verdrehte Ankerkette um ihre Beine. Noch einmal rief sie. Zweimal, dreimal, sie blökte seinen Namen, bis die Silben ineinander übergingen und ebenso bedeutungslos waren wie der unartikulierte Schrei eines Tiers. Die Brandung warf sie um, zog ihr den Boden unter den Füßen weg, so dass sie zitternd und eingehüllt in weißen Schaum auf den Strand lag, während Rafael sich gewandt über die Reling schwang und in den Tiefen von Lawrence Chiles’ Schoner verschwand.
Die Segel wurden gesetzt, sie bauschten sich im Wind, und dann war das Schiff weg.
INEZ DEANE
Geht das Leben weiter? Es geht weiter. Sie versank tief genug in Verzweiflung, um die Alternative zu erwägen, sie ging sogar so weit, die Flinte ihres Stiefvaters vom Haken zu nehmen und
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