San Miguel: Roman (German Edition)
ihr tat, was er wollte? Als es schließlich endgültig vorbei war und sie spürte, wie alles trocknete und ihre Haut sich spannte, als würden tausend winzige Haken daran ziehen, setzte sie sich auf. Er saß neben ihr und verbrannte etwas – eine Zigarette, er rauchte eine Zigarette, der Rauch war beißend. Sie konnte seine Augen nicht sehen. Sie konnte kaum sein Gesicht erkennen – ein dunkles Oval, das in der Finsternis schwebte. »Rafael«, sagte sie, das erste Wort, seit er sie zu Boden gezogen hatte, »ich will, dass du mich von hier wegbringst.«
Er sagte nichts.
»Bitte.« Ihre Stimme klang ihr fremd, ein dünnes, dehnbares Band aus Geräuschen, das von irgendwo tief in ihr kam. Sie glaubte, gleich würde sie in Tränen ausbrechen.
»Wohin?« sagte er schließlich.
»Irgendwohin. Nur weg von hier.«
Er schwieg lange. Die Glut der Zigarette leuchtete auf, und dennoch konnte sie sein Gesicht nicht erkennen.
»Mit dem Boot«, sagte sie. »Morgen, wenn du mit den anderen zurückfährst.«
»Captain Waters«, sagte er mit leiser, körperloser Stimme, »er wird das nicht wollen.«
»Er wird es nicht wissen«, sagte sie, und obwohl sie aus Stein war und kaum die Kraft aufbrachte, um den Arm zu heben, nahm sie seine Hand und strich mit dem Daumen über die Schwielen, ganz zart, immer wieder. »Nimm mich mit«, sagte sie. »Nimm mich einfach mit.«
Als am Horizont der erste zaghafte Lichtschimmer erschien, war sie bereits auf und machte sich in der Küche zu schaffen. Ihre Bewegungen waren langsam und mechanisch, ihre Füße gingen die gewohnten Wege, während sie sich über den Herd beugte, Wasser für den Kaffee aufsetzte, Pfannkuchenteig rührte und den Topf mit den Bohnen, den ewigen Bohnen, auf die Herdplatte stellte. Alles war normal, alles war an seinem Platz. Wenn sie für einen Moment stehenblieb und den Atem anhielt, konnte sie das gedämpfte Rasseln ihres schnarchenden Stiefvaters hören – es klang, als würde sich irgendein metallisches Wesen geduldig durch die Wände bohren –, doch sonst war alles still. Sie mahlte Kaffeebohnen und sagte sich, sie fühle sich nicht wesentlich anders, obwohl sie doch jetzt erst wirklich zur Frau geworden sei – und hier trieb eine Stimme in ihrem Kopf, die womöglich die ihrer Mutter war, den Gedanken noch ein Stück weiter: eine gefallene Frau, ruiniert wie eine der Heldinnen in den Romanen von Thomas Hardy, die ihre Eltern ihr verboten hatten. Es war ihr gleichgültig. Sie verschloss sich vor diesem Vorwurf. Etwas war geschehen, und jetzt war es vorüber. Nachdem sie um ein Uhr wieder ins Haus geschlichen war, hatte sie sich in der Schüssel gewaschen und dann lange vor dem Spiegel gesessen und in ihre Augen gesehen, aber da war alles wie immer, keine Spur von Veränderung: Sie war immer noch und weiterhin Edith Walters, eine sehr hübsche, umwerfend hübsche junge Frau, die auf die Bühne treten und sich für den Applaus Hunderter und Aberhunderter elegant gekleideter Damen und Herren mit einer tiefen Verbeugung und einem bescheidenen Erröten bedanken würde.
Das Wasser kochte. Draußen hörte man den ersten Ruf eines Vogels. Und dann rumpelte es an der Hintertür – der Hund wollte eingelassen und gefüttert werden –, und der Tag, der allem Anschein nach wie alle anderen war, begann. Beim Frühstück sah sie nicht ein einziges Mal in Rafaels Richtung, denn sie fürchtete, sich zu verraten, die Fassung zu verlieren oder loszuschluchzen, ja, loszuschluchzen, weil die Empfindungen, die ihr den Hals zuschnürten, so heftig und beklemmend waren, dass sie kaum schlucken konnte, und so nahm sie ihren Teller und ging in die Küche, um seinen Blicken und denen der anderen Männer zu entgehen. Er hatte es ihr feierlich versprochen, und so hatte sie sich an die Ausführung des Plans gemacht. Sie hatte ihren Koffer gepackt und ihr bestes Kleid, Handschuhe und Hut bereitgelegt. Wenn die Männer bei der Arbeit waren – heute nur einen halben Tag, denn sie mussten bloß noch aufräumen, die Säcke voller Wolle in die Scheune schaffen und ihre Messer, Scheren und das Bettzeug zusammenpacken –, würde sie den Koffer zwischen ein paar Felsen gleich neben der Straße verstecken, und nach dem Mittagessen würde sie nicht das Geschirr spülen, die Küche putzen und den Boden fegen, sondern hinauf auf ihr Zimmer gehen, sich umziehen und sich davonschleichen, um auf Rafael zu warten.
Ja. Und dann, wenn die anderen zum Schoner übergesetzt hatten (es war nicht Charlie
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