San Miguel: Roman (German Edition)
vielleicht ... Aber was wird dann aus mir? Dann wäre ich hier ganz allein, ohne dich. Du würdest mir furchtbar fehlen, denn ... na ja, ich hab es dir ja schon tausendmal gesagt: Ich liebe dich. Das weißt du.«
Darauf gab es nichts zu sagen. Und wenn sie drei Jahrhunderte auf dieser Insel bleiben musste – sie würde keine Liebesschwüre mit ihm austauschen. Sie hörte auf zu reiben, bis er seine Hand auf die ihre legte und sie führte. »Wirst du mit den Fischern reden?« fragte sie.
»Welchen Fischern.«
»Irgendwelchen Fischern eben.«
»Das wird dem Captain nicht gefallen.«
»Nein«, sagte sie, sah ihm tief in die Augen und schob ihre Hand tiefer. »Nein, wohl nicht.«
Seitdem hatte sie alle möglichen Segel in der Bucht oder weiter draußen auf dem Meer gesehen, von Schiffen mit nördlichem Kurs, von Fischerbooten und Robbenjägern, von privaten Yachten aus Buenaventura und Santa Barbara, deren Besitzer zum Vergnügen von Insel zu Insel fuhren, weil sie die Mittel und Möglichkeiten hatten zu fahren, wann und wohin sie wollten. Sie dagegen hatte weder das eine noch das andere. Nein. Und jedesmal, wenn sie Jimmie gegenüber davon anfing, sah er sie mit diesem Blick an, den sie inzwischen mühelos deuten konnte, einem Blick, aus dem Gier und Angst und selbstsüchtiger Starrsinn sprach: Er wollte sie ebensowenig gehen lassen wie ihr Stiefvater. Und was tat sie? Sie ignorierte ihn. Sie behandelte ihn wie Luft. Sie sah ihn nicht an, sie vermied jede Berührung, und wenn er sie ansprach, reagierte sie nicht, und doch gab er nicht nach. Oh, er beschwor sie und erzählte alle möglichen Geschichten, wie er ein Boot herangewinkt habe, aber es sei voller Chinesen oder vielleicht auch Japaner gewesen, und mit denen würde sie doch bestimmt nicht fahren wollen, oder? Und wie er Bob Ord schon beinahe überredet habe, aber dann sei Bobs Boot bei Anacapa auf ein Riff gelaufen, so dass es zum Reparieren nach Oxnard habe geschleppt werden müssen, und danach habe er sich nicht mehr sehen lassen. Aber das waren alles nur Geschichten, davon hatte sie nichts. Er hatte seine Chance gehabt, und er hatte versagt. Ihre Gedanken gingen jetzt in andere Richtungen, und als Rafael nett und hilfsbereit durch die Küchentür trat, sah sie eine Möglichkeit.
Sie spülte das Geschirr und räumte die Küche auf, während die Scherer einer nach dem anderen zur Baracke gingen und Jimmie ihnen schließlich folgte, und dann wartete sie, bis ihr Stiefvater und Adolph in ihr Kartenspiel vertieft waren, bevor sie sich im Abendlicht mit einem Buch auf einen Stuhl im Hof setzte. Das Buch hieß Sturmhöhe , und sie hatte es so oft gelesen, dass viele Seiten lose waren. Eigentlich hasste sie es inzwischen – all dieses ländliche Elend und die vom Schicksal vereitelten Romanzen, die ihr einst so exotisch und herzzerreißend erschienen waren, fand sie jetzt nur noch bedrückend, denn es war eine Sache, in einer Wohnung in San Francisco auf dem Sofa zu sitzen und sich die Szenerie des Buchs vorzustellen, aber eine ganz andere, sie bei jedem Blick durch das Fenster vor sich zu sehen. Doch das spielte keine Rolle. Das Buch war lediglich ein Requisit. Ebenso wie der Stuhl. Sie hatte sich das Haar gekämmt und es mit dem neuen roten Satinband hochgebunden, das sie bei ihrem Besuch in Santa Barbara gekauft hatte, und ihr Kleid war zwar außer Mode, aber gewaschen und gebügelt und das beste, das sie besaß. Unter die Arme und in die Falten des Kragens hatte sie sich etwas Parfüm getupft.
Es ging nur eine leise Brise, was selten genug vorkam; sie wehte über den Hof und trug den Gestank des Schweinestalls davon. Am Himmel verfärbten sich die langen, gespenstischen Federwolken im Licht der untergehenden Sonne von Grau zu Rosarot. Sie blätterte die Seiten ihres Buchs um, starrte auf die Worte, ohne ihren Sinn zu erfassen, und spähte verstohlen zur Veranda der Baracke und der Gruppe aus dunklen Gestalten, die dort saßen und standen. Lange geschah gar nichts. Sie saß aufgerichtet da, das Licht wurde sanfter und verging. Es war jetzt beinahe dunkel, und sie würde die Komödie nicht mehr lange weiterspielen können. Gerade als sie resignierte und wieder ins Haus gehen wollte, gab es drüben auf der Veranda eine Bewegung: eine Gestalt löste sich von den anderen, und plötzlich war es, als wäre sie in eine ganz andere Welt versetzt worden, denn sie hörte Musik, Musik, hier draußen, in der Ödnis – es waren die Klänge einer Gitarre: geschlagene
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