San Miguel: Roman (German Edition)
als meine Mutter – «
»Halt den Mund!« Es klang wie abgehackt. »Auf der Stelle. Du wirst jetzt aufstehen und sofort auf dein Zimmer gehen, sonst ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Sein Finger. Er fuchtelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht herum. »Du bist eine Schande«, blaffte er, und sie schob bereits den Stuhl zurück und war im Begriff zu fliehen – oh, wie sie ihn hasste, diesen Heuchler, diesen Tyrannen, und wer war er denn eigentlich, dass er sie wie eine Sklavin behandelte? –, als er den Zeigefinger krümmte und die Faust schloss und damit auf den Tisch schlug. »Und jetzt verschwinde! Hast du nicht gehört? Aus meinen Augen!«
Die ganze Nacht war ihr übel, jedenfalls nachdem die Wirkung des Alkohols nachgelassen hatte, denn der – das verstand sie jetzt – tötete den Schmerz. Das war der ganze Sinn und Zweck des Trinkens. Darum tranken Männer und auch Frauen, sogar ihre Mutter, die sich von Zeit zu Zeit ein Glas von dem Whiskey ihres Stiefvaters eingeschenkt und sich damit in die Ecke gesetzt hatte, mit glänzenden Augen und entspanntem Gesicht, die Hände um das Glas gelegt, als wollte sie noch die letzte wohltuende Wärme daraus ziehen. Zweimal musste sie aufstehen und sich in den Nachttopf übergeben, während im Dunkeln ringsumher alles zu schwanken und zu schlingern schien, als wäre die Welt aus dem Gleis geraten. Sie wusste nicht, was die anderen zu Abend gegessen hatten. Es war ihr auch vollkommen gleichgültig. Irgendwann war der Geruch nach gebratenen Zwiebeln und angebranntem Fleisch durch die Ritzen zwischen den Bodendielen gestiegen, was ihre Übelkeit nur verschlimmerte, und sie hörte sie bis tief in die Nacht lärmen.
Ihr war übel. Sie fühlte sich schwach. Ihr Kopf schmerzte. Aber Robert Ord würde morgen in aller Frühe aufbrechen, denn er hatte drei lebende, mit Netzen gefesselte Robben an Bord seines Boots und wollte nicht riskieren, dass sie verhungerten oder an einer Krankheit eingingen, bevor er sie in Santa Barbara bei dem Mann vom Zirkus ablieferte, der sie bestellt hatte, und Edith wollte ihn abfangen, wenn er im ersten Morgengrauen aus der Baracke trat. Er hatte ihr gesagt, er werde nicht zum Frühstück bleiben – wegen der Robben, und außerdem sei der Laderaum voller Guano, den er den ganzen Tag geschaufelt habe, wie die bröckeligen weißen Streifen auf seiner Hose bewiesen, denn das war keine Farbe, nein, keineswegs –, und anfangs hatte sie gebettelt, er möge doch länger bleiben. »Ich sehne mich so nach Gesellschaft«, hatte sie gesagt, und der Rum und die Art, wie das Licht durch die Fenster fiel, und die Tatsache, dass die eben noch so trübe und trostlose Welt mit einemmal wie verzaubert war, hatten bewirkt, dass sie näher an ihn heranrückte, aber dann begann sie, obwohl ihr Kopf benebelt war und die Gedanken nur langsam Gestalt annahmen, die Situation in einem ganz neuen Licht zu sehen. Sie legte die Hand auf seinen Oberarm und beugte sich vor, so dass ihre Gesichter nur Zentimeter voneinander entfernt waren. »Aber meinetwegen musst du nicht bleiben«, sagte sie.
»Oh, so habe ich das nicht gemeint«, sagte er. »Ich bin ... ich bin gern hier bei dir. Ich würde eine ganze Woche bleiben, wenn du ...«
Sie hätte sich von ihm küssen lassen, Guano hin oder her, und er roch auch nicht streng, nicht sehr jedenfalls, aber er schien den Wink nicht zu verstehen. Vielleicht war er einfach schüchtern. Sie hielt ihr Gesicht so dicht an seines, wie sie es wagte, und als er errötete und den Kopf abwandte, senkte sie die Stimme zu einem Flüstern und und sagte: »Du hast ja keine Ahnung, wie lange es her ist, seit ich mal was anderes gesehen habe als diese Insel.«
Er hob sein Glas an den Mund, reckte das Kinn und stürzte den Rum hinunter, und dann sah er sie an. Seine Augen schienen größer und kleiner und wieder größer zu werden. Falten drängten sich in sein Gesicht. Es war, als sähe er sie zum erstenmal. Ganz langsam, ganz zärtlich drückte er seine Lippen auf ihren Mund, und sie küssten sich, beinahe züchtig, als fürchtete er, zu weit zu gehen, und es war ein Kuss, wie sie ihn an Jimmie geübt hatte, der die ärgerliche Angewohnheit hatte, seine Zunge wie einen Wurm in ihren Mund zu schieben – ein trockener Kuss. Er richtete sich auf und starrte sie an, und dann beugte sie sich vor und küsste ihn, und jetzt war sie es, die ihre Zunge benutzte, und als sie sich diesmal voneinander lösten, stellte sie ihm keine Frage und bat ihn
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