San Miguel: Roman (German Edition)
alles war plötzlich so komisch –, und dann trat er an den Tisch und drückte demonstrativ die durchgeschnittenen Früchte über Ediths Glas aus. »Jetzt probier mal«, sagte er und füllte das Glas bis zum Rand mit Rum auf. »Und wenn es dir immer noch zu stark ist, rührst du noch einen Löffel Zucker hinein.«
Das Licht veränderte sich, als die Sonne weiterzog und die Scheune ihren Schatten über den Hof warf, doch das bemerkte sie kaum. Es gab auf der Welt nichts anderes als Robert Ord und das Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand, auch wenn sie irgendwie wusste, dass sie demnächst aufstehen, nach dem Herdfeuer sehen, das Essen kochen und ein zusätzliches Gedeck würde auflegen müssen. Aber alles zu seiner Zeit. Bis es soweit war, hatte sie Robert Ord, und der war ein Gentleman oder jedenfalls der beste Gentlemanersatz, den man auf dieser Insel kriegen konnte, und er ließ sie hier, an ihrem eigenen Tisch, sitzen, als wäre sie sein Gast – ja, er bestand darauf –, während er aufstand und Orangen und Zitronen über ihrem Glas ausdrückte und die Mixtur mit dunklem, aus Zuckerrohr gebranntem Rum auffüllte, herrlichem Rum, leckerem Rum, der nicht mehr nach Chemikalien roch, sondern nach Ferne und tropischen Inseln. Der Rum war wie eine Brise. Er umfächelte sie. Er hob sie sanft hoch. Sie hatte das Gefühl zu schweben.
Und dann war auf einmal ihr Stiefvater da. Adolph sah ihm über die Schulter, und auch Jimmie stand an der Tür und glotzte herein. »Bob!« rief ihr Stiefvater und ging mit großen Schritten durch die Küche, um Robert, der mühsam auf die Beine kam, auf die Schulter zu klopfen. Im nächsten Moment standen alle in der Küche. Hände wurden geschüttelt, und wenn Robert langsamer sprach als sonst, fiel es niemandem auf, jedenfalls anfangs nicht. Sie freuten sich zu sehr, ihn hier zu sehen, wo sie niemanden erwartet hatten, und bestürmten ihn mit Fragen: Was gab es Neues? Wie lange war er schon unterwegs? Hatte er bei seinem letzten Landaufenthalt Nichols gesehen? Hatte er zufällig irgendwelche Zeitungen dabei? Und eine Flasche? Hatte er eine Flasche?
Bei dieser letzten Frage griff er unter den Tisch. Er packte die Flasche am Hals und hielt sie hoch. Die Flüssigkeit darin war dunkel, so dunkel wie Melasse, und es waren nur noch zwei Fingerbreit übrig. »Ich habe«, begann er langsam, sehr, sehr langsam, »diese hier ... und dann noch« – er schwankte und musste sich mit der Hand an der Wand abstützten – »ein paar andere auf dem Boot.«
Das war der Augenblick, in dem alle vier zu ihr sahen. Sie saß auf dem Stuhl, der so dicht an den Tisch gerückt war, dass sie sich kaum rühren konnte – nicht dass sie sich hätte rühren wollen. Sie stemmte die Ellbogen auf den Tisch, und ihre Hände bildeten eine Stütze für ihr Kinn, denn ihr Kopf schien mit einemmal unglaublich schwer zu sein. Die Stille dröhnte ihr in den Ohren. Ihr Stiefvater sah Robert, die Flasche und schließlich sie an. »Was ist in dem Glas?« wollte er wissen.
»Saft.«
»Das kannst du deiner Großmutter erzählen.«
»Orangensaft«, präzisierte sie. »Und Zitronensaft.«
Er richtete sich auf. Seine Hände und Unterarme waren schmutzig, ebenso wie seine Fingernägel und das Haar, die Hose war mit getrocknetem Schlamm bespritzt, und das Hemd war voller Staub. Sie waren zum anderen Ende der Insel geritten, hatten nach der Herde gesehen und, da sonst nicht viel zu tun war, dies und das erledigt. Er kniff die Augen zusammen. Ein Ausdruck wilder Wut erschien auf seinem Gesicht. Dass er einen langen Schritt machte, ihr das Glas aus der Hand riss und prüfend daran schnupperte, war eigentlich genau das, was sie erwartet hatte. »Du bist betrunken«, sagte er.
»Bin ich nicht.«
»Lüg mich nicht an. Du ... du ... du bist widerlich!«
»Sie ...« begann Robert, und es war, als hätte er den Mund voller Maisbrot und könne nicht riskieren, die Worte richtig auszusprechen, »sie hat ... oder vielmehr: Ich habe ihr ein Schlückchen angeboten ...«
Ihr Stiefvater drehte sich brüsk zu ihm um. »Du hältst dich da raus.« Und dann beugte er sich über den Tisch und brachte sein Gesicht so dicht an ihres, dass sie seinen ranzigen Atem riechen konnte. Er unterschied sich nicht von dem Geruch des Fleisches auf dem Hackklotz, über dem die Fliegen tanzten. »Du bist betrunken«, sagte er abermals.
Etwas blitzte in ihr auf, ein Funke von Rebellion. »Na und? Du bist jeden zweiten Abend betrunken. Du warst betrunken,
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