San Miguel: Roman (German Edition)
über den durch vielen Gebrauch silbrig polierten Abzugshahn zu streichen, sie verbrachte einen ganzen elenden, nebligen Nachmittag hoch über dem tosenden Meer auf einem Sims, nicht größer als die Sitzfläche eines Stuhls, und versuchte den Mut zu finden, den Schritt ins Leere zu tun. Sie hörte das Donnern der Brandung, schmeckte die salzige Gischt. Die Nässe durchdrang ihr Haar und machte den Fels so schlüpfrig, als wäre er eingefettet. Von oben tropfte es kalt. Sie drückte den Rücken an die Wand, schloss die Augen und wich vor der Stimme zurück, die immerzu flüsterte: Nun mach schon, mach schon . Sie sah sich tanzen, sie sah sich am Klavier, sie stellte sich vor, wie ihre Finger über die Tasten glitten und die Melodie spielten, als wäre dies eine Übung und Mr. Sokolowski säße neben ihr auf einer Wolke und schlüge den Takt. Es war die Musik, die sie zurückhielt. Und als sie schließlich die Schuhe auszog, weil ihre nackten Füße besser Halt fanden, und an der Felswand hinauf zum Plateau und zu den in glotzäugiger Gelassenheit dastehenden Schafen kletterte, prüfte sie jeden Vorsprung, an dem sie sich festhielt, doppelt und dreifach.
An einem endlos langen Nachmittag saß sie zwei Monate später in der Küche und zerteilte mühsam den Hammel, den Adolph am Vortag geschossen hatte, mit einem Küchenbeil. Ihr Geist war so stumpf wie das Beil, das sie immer wieder schärfen musste. Plötzlich klopfte es an der Tür. Sie sah vom Hackklotz auf, das Beil verharrte über der roten, verdrehten Masse aus Muskeln, Haut und Fett. Der Herd ächzte. Das ferne Gemurmel der aus reiner Lebenslust bellenden Robben durchschnitt die Stille. Sie dachte, sie habe sich getäuscht, doch dann klopfte es abermals, und sie legte das Küchenbeil hin und hielt den Atem an. Ganz langsam wischte sie sich die Hände an der Schürze ab und ließ das in die Tür eingelassene Fenster nicht aus den Augen.
Auf der hinteren Veranda stand eine Gestalt, ein aufragender Schatten hinter dem vom Flugsand blind gewordenen Glas. Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es nicht ihr Stiefvater war. Auch nicht Jimmie oder Adolph. Es war jemand anders, jemand Neues, ein neues Gesicht, eine neue Gestalt, die sie mit den anderen drei, die sie kannte, vergleichen konnte, denn auf dieser Insel mit all ihren Hügeln und Schluchten und wellenumspülten Buchten gab es nur sie vier, niemanden sonst, außer den Scherern, die allerdings erst im Winter zurückkehren würden, und dem einen oder anderen Fischer, der hier an Land ging, um mal etwas anderes unter den Füßen zu spüren als ein schwankendes Deck und das unablässige Auf und Ab des kalten Salzwassers. Und jetzt bekam die Gestalt eine Stimme, eine Männerstimme, die leise ihren Namen rief – »Edith? Edith, bist du da?« –, und diese Stimme kannte sie doch, oder? Natürlich. Es war ... es war ...
Sie war schon unterwegs zur Tür und wischte sich noch energischer die Hände ab. Sie hatte den Geruch des toten Tiers in der Nase, ihre Schürze war schmutzig, ihre Frisur eine Katastrophe – und solange sie sich nicht die stinkenden Hände gewaschen hatte, konnte sie sie nicht in Ordnung bringen –, und da fiel es ihr ein: Robert. Es war Robert Ord. Der Robbenjäger. Der Hansdampf. Der Mann – der junge Mann –, der ein Boot besaß, ein eigenes Boot mit Ruder, Segel und Rumpf, das die Wellen wie ein Beil zerteilen und irgend etwas oder irgend jemanden zu der bleichen, gezackten Küste bringen konnte, die wie ein Trugbild über dem Horizont hing. Noch einmal fuhr sie mit der Hand über die Schürze, dann öffnete sie die Tür und sagte: »Robert! Was für eine Überraschung. Wie geht es dir?«
Er war groß, er schien aus seinen Robbenfellstiefeln herauszuwachsen, er war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, und er grinste mit solcher Intensität auf sie herab, dass sie sich fragte, ob er vielleicht getrunken hatte. »Mir?« Eine Pause. »Ich bin ... ich hab da was am rechten Fuß.« Er hob das Bein und schüttelte es. Seine Hose aus schwerem Twill hatte weiße Spritzer – möglicherweise Farbe, aber was sollte er hier draußen schon anmalen? Die Kajüte seines Boots? »Es riecht nicht allzugut, aber es ist nichts Ernstes, ich hatte das schon mal, und ich weiß auch, dass ich den Splitter gleich hätte rausziehen sollen, aber jetzt eitert es eben ein bisschen, damit ich weiß, warum es besser ist, nicht barfuß herumzulaufen, aber was ich eigentlich sagen wollte, ist: Wie
Weitere Kostenlose Bücher