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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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war tot, aber an seiner Stelle war Edith da und wurde gehätschelt, geliebt und umsorgt –, als Will, hoch zu Ross, sein Pferd wendete, neben dem Schlitten herritt und sich zu ihr beugte.
    »Siehst du das, Minnie?« rief er und machte eine ausladende Geste, die die ganze Szenerie einschloss, von den flachen Furchen, die der Schlitten hinterließ, bis zum Gipfel des Green Mountain und den überall verstreuten Gruppen von Schafen, die im Licht der gütig scheinenden Sonne leuchteten. »Das ist nur ein kleiner Teil der Herde. Mills schätzt sie auf viertausend, und da ist der Zuwachs durch die diesjährigen Lämmer noch nicht eingerechnet.«
    Er grinste zu ihr herab und wirkte so lebendig wie seit Jahren nicht. Seine Begeisterung ging mit ihm durch. »Ja, ich sehe sie«, rief sie zurück, und der Schlitten schaukelte derart, dass sie sich mit beiden Händen festhalten musste. »Sieh nur, die kleinen Lämmer, die ihre ersten Schritte machen. Wie sie strampeln.«
    Edith war auf der anderen Seite des Schlittens, keine fünf Meter entfernt. Ihre Schultern unter der Krempe des Hutes bewegten sich anmutig, während das Maultier einen Fuß vor den anderen setzte und sich langsam und umsichtig einen Weg durch das Buschland suchte, wo überall, so weit das Auge reichte, Wildblumen und junges Gras sprossen. Marantha wollte ihr etwas zurufen, sie auf die Lämmer hinweisen, als Edith an den Zügeln zog, so dass das Maultier den Kopf zurückriss und wie angewurzelt stehenblieb, reglos bis auf das metronomische Hin und Her des Schweifes. Edith richtete sich hoch auf und beschattete mit der Hand die Augen. »Seht doch«, sagte sie und zeigte mit ausgestrecktem Arm, »das scheint allein zu sein. Ist es wirklich ganz allein? Da drüben.«
    Der Hund hatte das Lamm bereits entdeckt, rannte durch das Gras zu ihm und umkreiste es zweimal, wobei er ununterbrochen in hoher Tonlage bellte. Das Lamm, an dessen Bauch noch die Nabelschnur baumelte, sah ihn nur blinzelnd an, so hilflos wie ein vom Baum gefallenes Blatt. Die Mutter war nirgends zu sehen.
    »Der Hund soll aufhören zu bellen, sonst vertreibt er noch alle Mutterschafe«, sagte Will zu Jimmie, der das Maultier mit einem einzigen gutturalen Befehl zum Stehen brachte, vom Schlitten sprang und durch das Buschwerk ging. Der Hund tänzelte ihm voraus.
    »Nipper!« rief der Junge. »Hierher, Nipper!«
    Das war zuviel für Edith. Sie glitt aus dem Sattel, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, und eilte ihm nach, und im nächsten Augenblick waren sie alle abgestiegen, die ganze Gesellschaft, sie und Ida und auch Will, und gingen zwischen den niedrigen Büschen hindurch zu dem Lamm. Es stand abseits der Herde, die jetzt in alle Richtungen auseinanderlief, lauter Mutterschafe mit ein oder zwei und manchmal sogar drei Lämmern – es waren Hunderte von Lämmern, sie waren überall, wie Pilze nach einem Regen. Dieser Geruch lag in der Luft, dieser intensive Geruch, als wäre etwas in Gärung. Plötzlich war es kalt. Marantha legte die Hand an die Kehle und schloss das Revers des Mantels vor der Brise, die sich scheinbar aus dem Nichts erhoben hatte. Als sie bei dem Lamm angekommen war, hatte der Hund sich gesetzt, und Jimmie und Will standen da und betrachteten es, als wäre es ein Exemplar einer seltenen Art. Ediths Gesicht war gerötet. Sie beugte sich hinunter und hielt dem Lamm einen Grashalm vor die Nase. »Hier«, sagte sie. »Hier, mein Kleines, friss das.«
    »Es will kein Gras«, sagte Jimmie, ohne eine Miene zu verziehen. »Es will Milch. Muttermilch.«
    »Das arme Ding«, hörte Marantha sich sagen, und in diesem Augenblick stieß das Tier ein so dünnes, verzweifeltes Blöken aus, dass man glauben konnte, es werde hier, vor ihren Augen, sterben.
    »Jedes Lamm hat seinen eigenen Geruch und seine eigene Stimme, an denen die Mutter es erkennt«, sagte Jimmie. »Aber manchmal verstößt ein Mutterschaf sein Junges, und keiner weiß, warum.«
    »Können wir es nicht behalten?« sagte Edith flehend. »Großziehen, meine ich. Denn wenn seine Mutter es – «
    Will stand neben ihr und sah auf den schmalen Schädel des Lamms, die noch nassen Ohren, die gelben Schlitzaugen und die Lippen, die sich öffneten und schlossen. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt, wie immer, wenn er einen Entschluss gefasst hatte, und das ärgerte sie, denn sie wusste, was jetzt kam. »Du kannst nicht einfach ein Lamm mitnehmen, nur weil du meinst, dass es verlassen ist«, sagte er, und seine

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