San Miguel: Roman (German Edition)
sogar in der Küche, auch jetzt, da sie in einem Weidenkorb schlief und der Topf auf dem Herd stand –, ein schlankes weißes Fischerboot, an dessen Heck die japanische Flagge wehte, in die Bucht einlief. Die Flagge war schön, wie sie fand, schlichter und nüchterner als die amerikanische: auf reinweißem Hintergrund ein roter, kreisrunder Punkt, der die aufgehende Sonne symbolisierte. Sie brauchte das Fernglas, um sie erkennen zu können, und als sie das Baby auf den Arm nahm und den Hügel hinunterging, um die Leute zu begrüßen, wie sie jeden der seltenen Besucher begrüßte, seien es die Jungs von der Küstenwache, Sportbootfahrer aus Santa Barbara oder Walfänger aus Norwegen, war sie ganz unbesorgt. Sie würden etwas von ihr erbitten (Fleisch, Wasser) und ihr als Gegenleistung etwas geben (höchstwahrscheinlich Fisch), und sie würde sie in ihr Haus einladen und ihnen Tee und etwas zu essen anbieten, und wenn sie kein Englisch konnten, würden sie eben mit Händen und Füßen kommunizieren. Sie freute sich immer über Gesellschaft.
Herbie war früher am Morgen zur Südwestseite der Insel gegangen, wo die See-Elefanten waren, um, wie er sagte, ein Auge auf sie zu haben. Er hatte ein Gewehr und seinen Safarihut mitgenommen, außerdem eine Feldflasche mit Wasser und die Sandwiches, die sie ihm gemacht hatte. Es waren fünf, sechs Kilometer bis zu dem Strand, wo die großen, fetten Bullen ihre Harems hatten. Die Kühe waren um ein Drittel kleiner und lagen herum wie Mehlsäcke. Sie war mit Herbie ein halbes dutzendmal dort gewesen, um sie sich anzusehen, und sie waren ja auch ganz interessant, diese Wesen, die jedes Jahr wie durch einen Zauber aus dem Meer erschienen und wie die Wale wegen ihres Trans gejagt und fast ausgerottet worden waren, bis die Petroleumindustrie das herkömmliche Lampenöl überflüssig gemacht und sie gerettet hatte. Sie fand die Tiere allerdings nicht so interessant wie Herbie, der Jäger. Er werde dem Museum das Skelett nicht stiften, sagte er immer wieder, sondern verkaufen , denn in Zeiten wie diesen bräuchten sie jeden Cent, den sie zusammenkratzen könnten, da Bob Brooks nur noch den Mindestlohn zahle und auf andere Weise kaum an Geld zu kommen sei. Da hatte er wohl recht, dachte sie, und sie wusste auch, dass sie von Glück sagen konnten, überhaupt eine bezahlte Arbeit zu haben und hier draußen leben zu dürfen, weit entfernt von den Suppenküchen, den Hobos, den verarmten Bauern aus Oklahoma und allen anderen, die in einer zu nichts zusammengeschrumpften Welt hungern mussten. Sie waren nicht autark, davon waren sie weit entfernt – der Garten war ein Fiasko, und alles Lebensnotwendige musste mit dem Schiff herbeigeschafft werden –, aber im Gegensatz zu anderen konnten sie jederzeit Lammfleisch essen. Und Fisch. Und gelegentlich einen Hummer oder ein paar Abalonen, die sie flachklopfte, in Kondensmilch legte, mit Semmelbröseln panierte, in viel Öl briet und, um sie ein bisschen aufzuwerten, mit ihrer selbstgemachten Tatarsauce servierte.
O ja, sie hatten Glück. Sie waren vielleicht die glücklichsten Menschen der Welt. Herbie schlich sich an seine See-Elefanten an, Jimmie war auf dem Festland oder auf einer von Bob Brooks’ anderen Inseln, denn Bob fühlte sich verantwortlich und versuchte, Arbeit für ihn zu finden, so gut es ging, in der Bucht lag ein fremdes Schiff vor Anker, die Sonne schien freundlich, und sie war, das Baby auf dem Arm, unterwegs zum Strand, um die Besucher zu begrüßen, aus Neugier und natürlich auch aus Gastfreundlichkeit.
Es waren drei Männer, die das Dingi auf den Strand zogen, als Elise auf sie zuging. Marianne lehnte an ihrer Schulter, und unter ihren Schuhen zischelte der Sand. Die drei sahen aus wie alle anderen Fischer – schmutzige Hosen, Seemannsjacken, Schirmmützen –, nur dass sie nicht Schuhe, sondern Sandalen trugen. Einer von ihnen, offenbar der Kapitän, zog, als er sie kommen sah, seine Jacke aus und gab sie dem Mann neben sich. Darunter trug er ein weißes Jackett mit Schulterklappen. Er sagte etwas zu ihr, was, wie ihr später bewusst wurde, vermutlich ein schwerfälliges, undeutliches »Guten Tag« war, und verbeugte sich tief, ebenso wie seine beiden Gefährten.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und verbeugte sich ebenfalls. Dann lächelte sie und sagte: »Willkommen, willkommen auf unserer Insel« und fügte, weil sie an Herbie dachte, hinzu, »dem Königreich San Miguel.«
Im nächsten Augenblick waren sie
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