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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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wäre, der die Entbindung würde vornehmen müssen. »Wenn Bob nur daran gedacht hätte, hier draußen ein Krankenhaus zu bauen«, sagte er und sah sie mit einem Grinsen an, »bräuchten wir uns keine Sorgen zu machen. Soll ich ihm schreiben und mich beschweren?«
    In diesen letzten beiden Monaten der Schwangerschaft fehlte er ihr sehr. In Brooks’ Haus gab es Personal, was sie an den Haushalt erinnerte, in dem sie aufgewachsen war: Sie hatten sieben Angestellte gehabt, doch das war vorbei und gehörte zu einem anderen Leben in einer anderen Welt, und überhaupt kam sie sich vor wie ein Eindringling. Bei den Whites – der Familie ihrer Cousine im San Fernando Valley – fühlte sie sich noch unbehaglicher. Sie bestand darauf, beim Kochen und Aufräumen zu helfen, ihre eigene Wäsche zu waschen und ihr Bett selbst zu machen, aber sie bewegte sich jetzt langsam und war ständig müde, und sie wollte niemandem zur Last fallen, am wenigsten einer Cousine, die sie kaum kannte. Und dann der Lärm. Überall waren Automobile, in den Geschäften drängten sich die Menschen, und das Radio plapperte ununterbrochen. Als Herbie vier Tage nach Mariannes Geburt in ihr Zimmer im Good Samaritan Hospital in Los Angeles platzte, sagte sie nur: »Bring mich nach Hause.«
    Aber so einfach war das nicht. Herbie hatte keine andere Wahl gehabt, als sich von Jimmie vertreten zu lassen, und musste so schnell wie möglich zurückkehren und alles wieder in Ordnung bringen, doch der Arzt ließ nicht mit sich reden: Das Baby müsse mindestens neun Pfund wiegen, bevor es das Festland verlasse, oder er lehne jede Verantwortung ab. Neun Pfund, das war der entscheidende Wert, die Marke, die unnachgiebige Kette, die sie ans Festland fesselte. Herbie fand eine möblierte Wohnung für sie – was blieb ihm anderes übrig? Sie war klein, zwei Zimmer, kein Aufzug, in einer belebten Straße, zehn Minuten vom Krankenhaus entfernt. Er platzte fast vor Energie und Ungeduld, sein Gesicht war weich, wenn er das Baby in den Armen hielt, aber hart, wenn er sie ansah – als wäre es ihre Schuld, dass sie hier festsaßen. Er war es doch, der sie geheiratet hatte, nicht? Er hatte sein Glied in sie hineingesteckt. Er war schuld.
    Sie stritten und versöhnten sich und stritten erneut. Herbie war den ganzen Tag, vom ersten Morgengrauen bis zur Abenddämmerung, unterwegs und suchte Arbeit, irgend etwas, von dem sie leben und das Geld für die Entbindung zurückzahlen konnten, das Bob Brooks ihnen vorgestreckt hatte, obwohl er selbst knapp bei Kasse war. Doch es gab keine Arbeit, ganz gleich, wie niedrig oder schlecht bezahlt sie war. Hobos fuhren auf Güterzügen durch das Land. An den Straßen standen in Dreierreihen Männer, die Bleistifte oder Äpfel verkauften, weil es nicht ganz so demütigend war wie unverhohlenes Betteln. »Wieviel wiegt sie?« fragte Herbie immer wieder. »Hast du sie schon gewogen? Heute morgen ? Und jetzt ?«
    Aber schließlich durften sie in Bob Brooks’ Wagen nach Ventura fahren, von wo die Hermes sie nach San Miguel bringen würde. Herbie saß am Steuer, und sie hatte ihre schlafende, 4600 Gramm schwere Tochter auf dem Arm und fühlte sich, als säße sie nicht in einem Automobil, sondern in einem Flugzeug, und schwebte hoch über der Welt. Sie dachte nur an das Paradebett, an dessen Fußende das Kinderbett stand, und an den neuen, modernen Ofen, der den Raum so mollig warm machen würde wie jede Mietwohnung, jedes dampfbeheizte Krankenhauszimmer. Die Meerluft war paradiesisch, die Möwen erschienen ihr wie Engel. Was machte es schon, dass die Hermes ein Patrouillenboot und auf der Jagd nach Alkoholschmugglern war und es einen ganzen Tag dauerte, bis sie die Landzunge umrundeten und in die Bucht einliefen? Sie waren endlich zu Hause.
    Als der Kapitän das Dingi zu Wasser ließ und einem Matrosen befahl, sie an Land zu rudern, war es bereits dunkel. Er war neu, dieser Matrose, sie kannten ihn nicht, und im Dunkeln konnte sie außer dem hellen Schimmer seiner Mütze und der Glut der Zigarette, die er zwischen die Lippen geklemmt hatte, nicht viel von ihm erkennen. Er sagte kein Wort, bis sie beinahe die Stelle erreicht hatten, wo sich die Wellen brachen und er aufhörte zu rudern. »Wir müssen den richtigen Moment abpassen«, sagte er, während das Boot auf dem Wasser schaukelte, die Brandung donnerte und zu beiden Seiten die langen weißen Schaumkronen der Wellen aufleuchteten. »Schließlich wollen wir ja kein Risiko eingehen – Sie

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