San Miguel: Roman (German Edition)
sicher nützlich, denn Herbie war jetzt so weit draußen, dass sie ihn kaum noch sehen konnte, und sofern der Killerwal überhaupt noch da war – und sie hoffte inständig, dass er nicht mehr da war –, hatte er sich unsichtbar gemacht.
Natürlich war ein Killerwal gar kein Wal, sondern ein Delphin, ein mit großen Zähnen versehener Delphin, zehn Meter lang und fünf Tonnen schwer, ein Tier, das andere Wale jagte, sogar Blauwale, die größten Tiere der Welt. An dem Abend, an dem Herbie ihr erzählt hatte, er habe in der Bucht einen Orca gesehen, hatte sie in der Enzyklopädie nachgeschlagen, und dort hatte gestanden, dass Orcas sich in die Lippen und die Zunge ihrer Opfer verbissen und sie herausrissen – und die Zunge eines Wals war größer als ihr Mann und das Ruderboot zusammen. Sie waren reißende Bestien. Gnadenlose Killer.
Plötzlich war sie wütend. Was fiel ihm eigentlich ein? War er verrückt geworden? Selbst wenn es ihm gelang, das Tier zu erlegen – er glaubte doch wohl nicht, er könnte es an Land bringen, oder? Ein Mann in einem Ruderboot, in so aufgewühlter See? Er war impulsiv, er handelte unverantwortlich. Vor einer Stunde noch hatten sie auf einer Decke am Strand gesessen und die großartigste Neuigkeit in ihrem neuen Leben – in Elises Leben jedenfalls – gefeiert, und jetzt war er dort draußen und riskierte Kopf und Kragen, ohne auch nur eine Sekunde an sie und das Baby zu denken. Der Wind heulte. Sie legte die Arme über die Brust, zog die Decke fest um sich und starrte auf das Meer, wo das Pünktchen inzwischen verschwunden war. Empörung überkam sie. Die Kälte machte sie wütend. Was sollte ohne ihn aus ihr werden? Wie würde ihr Leben dann aussehen, das Leben, das erst begonnen hatte, als sie in der engen, von Menschen wimmelnden Stadt die Tür ihrer Wohnung geöffnet und ihn gesehen hatte: grinsend, mit Stehkragen, Fliege und frischgewachstem Schnurrbart? Bonjour, Madame. Oder sollte ich sagen: Mademoiselle? Enchanté . Wenn man sich hier draußen verletzte, war man für immer versehrt.
Aber das war nichts, über das sie nachdenken wollte; es war ein Alptraum, ein cauchemar. Wütend kehrte sie dem Meer und ihrem Mann den Rücken und machte sich auf den langen Weg hinauf zum Haus.
MARIANNE
Wäre es ein Junge gewesen, dann wäre er auf den Namen Herbert getauft worden, denn nicht nur sein Vater, sondern auch Elises Vater und ihr älterer Bruder hießen so. Herbert war der natürlichste Name für einen Jungen, der einzige, der in Frage kam. Aber dieses Baby war ein Mädchen, und bevor Elise zum Festland fuhr, um zunächst bei Bob Brooks und seiner ebenfalls schwangeren Frau in ihrem großen Haus in Beverly Hills und dann bei einer Cousine im San Fernando Valley zu wohnen, hatten sie und Herbie sich, für den unwahrscheinlichen Fall einer Tochter, auf den Namen Marianne geeinigt. Herbie jedenfalls bestand darauf, dass dieser Fall unwahrscheinlich sei. Als sie einwandte, die Wahrscheinlichkeit sei gleich verteilt, winkte er ab. »Der kleine Herbie wird mir helfen, die neue Sickergrube auszuheben, die Pferde zu beschlagen und die Lebensmittel vom Strand herauf- und die Wolle zum Strand hinunterzuschaffen. Und er wird schießen können, bevor er laufen kann.«
Ob Mädchen oder Junge – letztlich spielte das für ihn keine Rolle, das wusste sie, aber insgeheim freute sie sich, als sie aus dem Äthernebel auftauchte und der Arzt ihr das neueste Menschenwesen der Welt hinhielt und sagte: Es ist ein Mädchen . Herbie war nicht bei ihr. Und zwar schon seit zwei Monaten nicht, denn er hatte geradezu übermäßig besorgt darauf bestanden, sie am Ende des siebten Monats in ein Boot zu setzen, das sie zum Festland brachte. Bei der Jagd nach dem Orca (der, soviel sie wusste, noch immer sehr lebendig herumschwamm und Robben fraß) hatte er sie praktisch ignoriert, doch als ihre Brüste schwerer wurden, als ihr Bauch anschwoll und ihre Kleider schrumpften, so dass sie die Hälfte ihrer Zeit damit verbrachte, ihre Blusen, Röcke und Kleider weiter zu machen, wurde er immer fürsorglicher. Er half ihr bei der Hausarbeit, bestand darauf, dass sie sich abends in einen bequemen Sessel setzte und die Beine hochlegte, und drückte immer wieder das Ohr an ihren kugelrunden Bauch – ihren Schoß –, um zu hören, wie sich das Kind darin bewegte. Er hatte unendlich viele Pläne, aber er war auch nervös. Oder vielmehr entsetzt bei dem Gedanken, das Kind könnte zu früh kommen, so dass er derjenige
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