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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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leiserer Stimme. »Kann sein. Der mit der weißen Jacke kam mir bekannt vor. Ich hab dir die Geschichte doch erzählt, die mit dem Strychnin. Als ich die Vergiftung hatte.«
    Er griff nach ihrer Hand, doch sie wich zurück. »Nein, hast du nicht.«
    »Hör zu, es tut mir leid«, sagte er und setzte sich auf das Sofa, genau dorthin, wo vor einer Stunde noch die Japaner gesessen hatten, aber sie wollte es nicht auf sich beruhen lassen, sie war wütend auf ihn und baute sich, die Hände in die Hüften gestützt, vor ihm auf, und um so schlimmer, wenn das Baby in seinem Korb quengelte.
    »Das war, als ich zum erstenmal hier draußen war. Bob und Jimmie waren nicht da, ich war ganz allein und konnte mich auf nichts konzentrieren, weil ich die ganze Zeit an dich gedacht habe. Erinnerst du dich an all die Briefe, die ich dir geschrieben habe? Die traurigen, sehnsüchtigen Briefe? Jedenfalls, das Lammen rückte näher, und bevor Bob wegfuhr, hatte er gesagt, wir müssten was gegen die Raben unternehmen, damit sie nicht die neugeborenen Lämmer töten, denn das tun sie, das weißt du ja. Ich hatte ein paar abgeschossen, wollte aber Munition sparen, also habe ich Giftköder ausgelegt, verdorbenes Fleisch, das ich mit dem Strychnin aus der Flasche in der Scheune bestrichen hatte. Aber dann habe ich einen Fehler gemacht, und weißt du, was für einen? Als ich damit fertig war, habe ich mir eine Zigarette gedreht, das Papier angeleckt und die Zigarette geraucht, ohne mir vorher die Hände zu waschen.«
    Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Du hast dich selbst vergiftet«, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme sanft.
    »Ja.«
    »Aber das hast du mir nie erzählt, und auch in deinen Briefen hast du es nicht – «
    »Warum auch? Ich kam mir vor wie ein Idiot. Und ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Aber es war schlimm, und es hat sofort gewirkt, weil ich es ja geraucht habe, verstehst du? Ich hab Zuckungen gekriegt. Ich wurde ganz steif und bekam keine Luft mehr. Ich lag auf dem Hof im Dreck und dachte, ich würde ganz allein sterben, und es würde Wochen dauern, bis mich jemand finden würde, und plötzlich stand da so ein Japs, der von einem Boot unten in der Bucht gekommen war wie diese anderen vorhin. Er sah mich über das Tor hinweg an, und ich rief um Hilfe. ›Ich hab eine Vergiftung‹, sagte ich, und was danach kam, weiß ich nicht, aber er muss mich ins Haus geschafft, aufs Sofa gelegt und zugedeckt haben. Ich verlor das Bewusstsein. Und als ich wieder aufwachte, war der Japs weg und eins meiner Gewehre ebenfalls. Damals hatte ich ja nur drei hier – die anderen hatte Hugh noch, Gott sei Dank –, und darum habe ich es sofort bemerkt. Kannst du dir das vorstellen? Ich liege da und sterbe – jedenfalls musste es für ihn so aussehen –, und dieser Schuft geht hin und klaut eins meiner Gewehre. Kann man noch tiefer sinken?«
    »Das wusste ich nicht«, sagte sie. »Es tut mir leid. Aber diese Männer ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Zu ihrer Verwunderung grinste er sie plötzlich an. »Was ist?« fragte sie. »Warum grinst du so?«
    »Hast du das Silberbesteck nachgezählt?«
    Und jetzt grinste sie ebenfalls – es war ein Witz. Er konnte schon wieder Witze darüber machen. Sie besaßen kein Silberbesteck, sie besaßen gar nichts aus Silber, nicht einmal einen Kerzenhalter oder Eierbecher. »Ich werde gleich mal nachsehen«, sagte sie.
    »Und was ist mit dem Silbertablett?«
    »Das werde ich auch kontrollieren«, sagte sie.

DER SCHMERZ
    Danach kam eine lange Zeit, in der nicht viel passierte. Alles war friedlich, der Wind wehte, die Schafe grasten, die Wellen schlugen an den Strand und wichen wieder zurück. Auf der Insel waren nur sie, Herbie und Marianne, einmal im Monat kam die Vaquero mit Lebensmitteln, alle ein, zwei Wochen brachte die Hermes Post und Nachrichten aus der Welt dort draußen. Die, während das Jahr verging, nicht sonderlich gut waren, und an Weihnachten gab es weder einen Weihnachtsbaum noch gekaufte Geschenke. Aber es war ein ruhiges, gemütliches Fest, und sie tauschten kleine, selbstgemachte Geschenke aus: Ohrringe aus Perlmutt, Socken und ein Schal in einem so knalligen Rot, dass man damit hätte Signale aussenden können, und Marianne bekam einen Teddy aus Kord mit Knopfaugen und drei kleine Schafe, die Herbie aus einem Stück Balsaholz geschnitzt hatte, das eines Tages am Strand aufgetaucht war.
    Ein weiterer Frühling kam und ging. Die Scherer kamen und fuhren weiter.

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