San Miguel: Roman (German Edition)
schon bei ihr, und ihre breiten, dunklen Gesichter mit den unkonturierten Zügen hellten sich überrascht auf, als sie Marianne, das Wunderkind, auf ihrem Arm sahen, als wäre ein Kind das letzte, was sie hier erwartet hatten. Elise fragte sich, wie lange sie schon auf See waren und ob sie zu Hause Frauen und Kinder hatten. Sie dachte an ihre eigene Trennung von Herbie, an die Zeit bei den Brooks’ und den Whites und daran, dass jeder Tag auf ihr gelastet hatte wie ein Sargdeckel und dass nichts recht gewesen war, nicht die Sonne am Morgen oder das Essen auf dem Tisch oder die Luft, die durch die Fenster hereinstrich und den Duft von Orangenblüten mitbrachte. Aber diese Männer waren jetzt an Land und hatten festen Boden unter den Füßen, und sie lachten laut und hielten Marianne ihre Zeigefinger hin, damit diese sie mit ihrer kleinen Faust umklammerte, sie schnitten Grimassen und sprachen mit hohen Stimmen und in einer Babysprache mit ihr – in ihrer fremden Sprache, und es klang, als würde der Wind in Baumwipfeln singen. »Bebi« , sagte der Kapitän immer wieder und sah zwischen ihr und Marianne hin und her, und sie konnte sehen, wie er versuchte, Worte zu formen, bis es schien, als müsste er vor Anstrengung implodieren, doch weiter kam er nicht.
»Möchten Sie«, sagte sie ganz langsam und deutlich, als würde das irgendeinen Unterschied machen, »zum Haus hinaufkommen« – sie wies mit dem Arm – »und etwas zu sich nehmen? Ich könnte Tee machen. Und Sandwiches.« Sie sah unschlüssig von einem zum anderen. »Mögen Sie Sandwiches?«
Eine Stunde später saßen die drei nebeneinander auf dem Sofa, das einst ein Sarg gewesen war. Sie hielten sich kerzengerade, und jeder hatte in der einen Hand eine Teetasse und in der anderen die Untertasse. Sie saß ihnen gegenüber, hielt Marianne auf dem Schoß und reichte dem Kapitän, der ihr am nächsten saß, einen Teller mit Lebkuchen. »Gut«, erklärte er, nachdem er einen kleinen Bissen davon probiert hatte. Die anderen beiden warteten auf ein Zeichen, wie sie sich verhalten sollten. Sie hätte sich zu gern mit ihnen verständigt, sie danach gefragt, woher sie kamen, ob sie Kinder hatten, wie ihre Religion war, was sie gewöhnlich aßen und was sie von Kalifornien hielten, denn dies war eine Gelegenheit, die sie in New York niemals gehabt hätte, wo es zwar alle möglichen Menschen gab, aber keine Japaner, jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Chinesen, ja. Aber dann sah sie die drei an und fragte sich, wie man sie von Chinesen unterscheiden sollte. Vielleicht hatte sie Japaner gesehen, ohne es zu wissen. Aber selbst wenn – sie hatte noch nie einem Japaner bei einer Tasse Tee und einem Teller Lebkuchen gegenübergesessen.
Amerikaner neigten dazu – und das galt auch für sie –, Fremde wie Kinder oder Idioten oder Taubstumme zu behandeln, nur weil sie kein Englisch konnten oder es nur unvollkommen beherrschten, doch hier waren Menschen, die sich ebensogut artikulieren konnten, die ebenso über Erfahrungen verfügten, die Leidenschaft und Hoffnung ebenso kannten wie sie selbst. Sie waren höflich. Sie hatten ausgezeichnete Manieren. Sie liebten Babys. Und sie hätten ihr, dessen war sie sich sicher, so viel erzählen können, wenn sie nur die richtigen Worte gekannt hätten. Sie stellte ihre Tasse ab und rückte Marianne auf ihrem Schoß zurecht. Und dann – sie wusste selbst nicht, warum, vielleicht weil es die Sprache der Diplomatie war, eine Weltsprache, und der Satz war heraus, bevor sie darüber nachdenken konnte – versuchte sie es mit Französisch: »Parlez-vous Français?«
Der Kapitän sah sie interessiert an, als hätte er die ganze Zeit darauf gewartet, diese Worte zu hören. Er lächelte. »Un peu. J’ai vécu à Marseille une fois – il y a plusieurs années.«
Und das war es, das war der Schlüssel. Obwohl sein französischer Wortschatz minimal war und er mit einem geradezu bizarren Akzent sprach, konnten sie sich endlich, wenn auch unbeholfen, verständigen. Sie erfuhr, dass er und seine Mannschaft – es waren noch acht weitere Männer an Bord – vor sechs Wochen in Yokohama in See gestochen waren und dass er die Inseln und die kalifornische Küste mit ihren Fischgründen sehr gut kannte, denn er war im Lauf seiner Jahre als Kapitän mit beaucoup Fischerbooten hiergewesen. Aber es ging langsam und war frustrierend, denn mit einemmal wollte sie alles über ihn wissen, über sein Leben, seine Hoffnungen und Vorurteile. Sie hatte einen
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