San Miguel: Roman (German Edition)
komme schon zurecht. Es ist ja nur für einen Tag. Oder zwei Tage – einen Tag dort und einen für die Rückfahrt. Zwei, vielleicht drei Tage. Ich komme schon zurecht. Bestimmt.«
»Nein«, sagte er, und er versuchte den Kopf zu schütteln, um seinem Nein Nachdruck zu verleihen, aber dann war der Schmerz plötzlich so heftig, dass er bloß das Gesicht verzog.
So ging es zwei Tage lang. Der Whiskey war alle, das Aspirin ging zur Neige, Herbie nahm nur Tee und Brühe zu sich, und es gab keine Möglichkeit, irgend jemanden zu benachrichtigen, es sei denn, sie fuhr mit dem Ruderboot aus der Bucht und südwärts um Nichols Point herum und dann ostwärts nach Santa Rosa, um dort zu versuchen, jemanden zu finden, der ihnen helfen konnte, doch das Boot war nicht fürs offene Meer gebaut, und sie würde bei dem Versuch wahrscheinlich nur ertrinken – und selbst wenn sie es bis nach Santa Rosa schaffte, wer sollte sich in der Zwischenzeit um Marianne und Herbie kümmern? Nein, die einzige Möglichkeit war, nach einem Schiff Ausschau zu halten und das Beste zu hoffen. Doch es war Januar, tiefster Winter, und das Wetter war schlecht – wenn es an einem Tag in der Woche aufklarte, war das ein Grund zum Jubeln –, und wenn das Wetter schlecht war, fuhren die Fischer nicht aus, und die Freizeitkapitäne blieben ebenfalls im Hafen. Woher sollte die wundersame Rettung also kommen? Und woher sollten die Leute an Bord wissen, dass man hier ihre Hilfe brauchte?
Am dritten Tag ging es ihm etwas besser. Er konnte sich im Bett aufsetzen, trank Kaffee und aß zum Frühstück Toast und zum Mittagessen einen Teller Suppe, aber als er aufstand, um auf die Toilette zu gehen, krümmte er sich keuchend, und danach waren Blutspuren in der Schüssel. Wenn sie zuvor nur besorgt gewesen war, so bekam sie jetzt wirklich Angst. »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte sie. »Ich gehe runter an den Strand und gebe Signale. Irgendwo da draußen muss doch ein Boot sein.«
»Signale?« Seine Stimme klang erstickt. »Was für Signale?«
»Ich werde ein Tuch an den Besenstiel binden und es schwenken, ein weißes Tuch.«
Er sagte nichts, sondern verzog nur vor Schmerz das Gesicht und schloss die Augen.
Am Nachmittag war es kalt, es ging ein steifer Wind, und die Wellen hatten Schaumkronen. Die Sicht war schlecht. Sie versuchte, für Marianne ein Spiel daraus zu machen, indem sie Gesichter in den Sand malte oder Muscheln sammelte, aber es machte keinen Spaß – trotz Handschuhen, Schal und Kapuze war Marianne durchgefroren, das sah sie. Ihre Wangen waren rot, ihre Nase lief. Sie war noch ein Baby, in einem Monat würde sie zwei Jahre alt werden, und es war verrückt, bei diesem Wetter mit ihr an den Strand zu gehen. Es war sinnlos. Das Ganze war sinnlos.
Am Abend erledigte sie das, was zu erledigen war, wie ein Automat: Sie kochte ein Abendessen, das sie allein essen würde, fütterte Marianne und brachte sie zu Bett, spülte das Geschirr und sorgte dafür, dass Herbie es so bequem wie möglich hatte. Sie versuchte, am Kamin zu sitzen und zu lesen, zu stricken, sich irgendwie zu beschäftigen, doch die Gedanken gingen ihr immer weiter im Kopf herum. Weil sie nicht einfach die Hände in den Schoß legen konnte – Herbie hatte Schmerzen und womöglich innere Blutungen, vielleicht starb er –, ging sie schließlich hinaus auf den Hof. Ihr war plötzlich der Gedanke gekommen, ein großes Feuer anzuzünden, ja die ganze Insel in Brand zu setzen, wenn es sein musste, damit irgend jemand irgendwo sah, was hier passierte.
Aber der Wind ließ es nicht zu. Er drang auf sie ein, sobald sie das Tor öffnete, er versuchte, sie umzuwerfen, und beschoss Hände und Gesicht mit Sandkörnern, während sie trockenes Holz in den Windschatten des Hauses brachte, das kostbare Feuerholz, das ausgegraben oder unten am Strand eingesammelt werden musste und von dem es nie genug gab. Sie kniete vor dem Haufen wie in einer Kirchenbank und sprach lautlose Gebete, doch die Streichhölzer wurden ausgeblasen, kaum dass sie gezündet hatten. Nachdem sie eine halbe Schachtel verbraucht und eine Zeitungsseite nach der anderen zusammengeknüllt hatte, gelang es ihr, ein kleines Flämmchen zu erwecken, und für einen Augenblick dachte sie, das Holz würde Feuer fangen, doch dann löschte eine Bö die Flamme aus, und es war wieder dunkel. In dieser Nacht lag sie schlaflos neben ihrem Mann im Bett und lauschte auf den Wind, der über die Insel jagte und sich reckte und streckte und
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