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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aufblähte, bis er ein ausgewachsener Sturm war.
    Und dann das Wunder. Am nächsten Morgen war der Himmel klar, der Wind hatte sich gelegt, und in der Bucht lag ein Boot, eine Motoryacht, die wohl in der Nacht Zuflucht vor dem Sturm gesucht hatte. Elise sah sie, kaum dass sie aufgestanden war und Herbie auf dem Stuhl neben dem Herd gefunden hatte, wo er zur Seite gekrümmt saß, in der Hand das leere Aspirinfläschchen. Marianne stand greinend in ihrem Bett und wollte auf den Arm genommen werden, und das Fernglas hing an dem Haken neben der Tür, wo sie es hingehängt hatte. »Pass auf Marianne auf«, sagte sie, während sie sich anzog, die Stiefel schnürte und nach dem Besenstiel mit dem weißen Tuch griff. »Lass sie nicht an den Herd. Ich bin gleich wieder da.«
    Das Boot war die Bon Temps aus Ventura und hatte sich mit der aufkommenden Flut vor dem Anker gedreht, so dass das Heck zum Strand zeigte, als Elise außer Atem und mit wild hämmerndem Herzen, in den Ohren ein schrilles Klingeln wie von einer Alarmglocke, über den Sand rannte. Unterwegs fürchtete sie, das Boot aus der Bucht fahren zu sehen, bevor sie unten angekommen war, und darum trieb sie sich zur Eile an und riskierte einen verstauchten Knöchel, einen Sturz oder Schlimmeres, denn überall lagen halb unter Treibsand verborgene Steine herum. Verzweifelt hatte sie kurz überlegt, ob sie auf Buck reiten sollte, doch das Satteln hätte zu lange gedauert, und so rannte sie einfach los und blieb erst stehen, als sie den Strand erreicht hatte. Sie schwenkte ihre Fahne wild über dem Kopf hin und her. »Hilfe!« rief sie, und die Dringlichkeit in ihrer Stimme drang bis zum stummen, leise schaukelnden Rumpf der Bon Temps , die ebensogut ein Geisterschiff hätte sein können, aber wahrscheinlich lagen alle noch in ihren Kojen und schliefen, oder?
    Es musste kurz nach sieben sein. Das Wasser roch ölig, faulig und war ganz unbewegt, und die Sonne stand wie festgeschraubt am Himmel und warf ein hartes, metallisches Gleißen über die Oberfläche. »Hilfe!« rief sie, bis zu den Knien im Wasser, und über ihr flatterte das Tuch in einem selbsterzeugten Wind. » SOS ! SOS !« Ganz sacht, beinahe entschuldigend, schwang das Boot an der Ankerkette hin und her.
    Ihr fiel ein, dass sie zum Ruderboot laufen und hinausrudern könnte, als eine Gestalt an Deck erschien. Es war ein Mann mit dunklen Haaren, kantiger Statur und verschlafenem Gesicht. Er legte die Hände an den Mund und rief mit einer Stimme, so dünn wie ein straff gespannter Draht: »Was ist los?«
    »Mein Mann braucht einen Arzt! Wir brauchen Hilfe!«
    Jetzt war da noch eine zweite Gestalt, eine Frau mit einem bleichen, milchigen Gesicht unter dem blonden Bubikopf und den schwarzen Strichen ihrer Augenbrauen. Die beiden steckten die Köpfe zusammen und berieten sich, und dann ließ der Mann das Dingi am Heck der Yacht zu Wasser, kletterte hinein und hielt es fest, während die Frau ihm folgte. Sie stießen ab, die Ruder tauchten ein, und sie bewegten sich auf den Strand zu.
    Auf dem Weg hinauf zum Haus machten sie sich miteinander bekannt – sie waren die Graffys, Dick und Margot, und sie waren auf dem Rückweg von einem Besuch bei Margots Eltern in Avila Beach gewesen, als der Sturm sie gezwungen hatte, in der Bucht Zuflucht zu suchen –, und Elise entschuldigte sich, dass sie so sehr zur Eile drängte. Bald waren sie außer Atem, und das Geplauder verstummte, bis nur noch das Keuchen und das Knirschen der kleinen Steine unter ihren Schuhen zu hören war. Die tiefstehende Sonne verlängerte ihre Schatten. Der Bach unterhalb von ihnen sang in seinem Bett. Unwillkürlich dachte sie, was für ein wunderschöner Tag es war – oder vielmehr: was für ein wunderschöner Tag es hätte sein können, wenn es nur keinen Schmerz und keine Gefahr gegeben hätte und alles wieder so gewesen wäre wie zuvor.
    Als sie ins Haus traten, saß Herbie noch immer auf dem Stuhl und hatte die hungrige, gelangweilte, ungeduldige Marianne auf dem Schoß. Sie hielt ein Bilderbuch in der Hand, an dem sie das Interesse verloren hatte. »Diese Leute werden uns helfen«, sagte Elise. Die Worte sprudelten aus ihr hervor, als sie sich hinunterbeugte und ihre Tochter auf den Arm nahm. Niemand war richtig angezogen. Es war unordentlich. Plötzlich schämte sie sich.
    Der Mann – wie hieß er noch gleich? – trat vor und beugte sich zu Herbie, während seine Frau in der Tür stehenblieb. »Ist es schlimm?« fragte er. Er war dünn,

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