San Miguel: Roman (German Edition)
hielt ihn zurück, »lass nur, Will.« Und dann dachte sie an Edith. »Bist du es, Edith?« rief sie.
Eine gedämpfte Stimme. »Ja, Mutter. Darf ich reinkommen?«
Edith hatte das kleinere Zimmer im ersten Stock bekommen, gleich gegenüber dem ihren, und Ida hatte sich in einer der Klosterzellen im Erdgeschoss eingerichtet. Nur gut, dass Jimmie und Adolph in der langen, aus einem einzigen Raum bestehenden Baracke schliefen, in der auch die Männer untergebracht wurden, die zweimal im Jahr kamen, um die Schafe zu scheren und die Wolle zum Festland zu schaffen.
Will hatte sich bereits aufgesetzt, schwer und bleich, in einem Nachthemd, das sauberer hätte sein können. Er hatte die Füße fest auf den Boden gestellt und kratzte sich den Kopf mit dem schütter werdenden Haar. »Einen Moment«, sagte sie. »Ich komme.« Und obwohl sie sich von den gestrigen Ereignissen noch so schwach fühlte, als hätte sie kein Blut mehr in den Adern, stand sie auf, schlüpfte in ihren Morgenmantel und ging über die nackten Dielenbretter zu der fremden Tür, hinter der ein Haus lag, das sie kaum kannte.
Edith stand da und war bereits angezogen, doch Marantha bemerkte sofort, dass sie das Korsett nachlässig geschnürt hatte. Immer war sie nachlässig, als wäre ein gutes Erscheinungsbild vollkommen unwichtig. Es sah aus, als hinge das Kleid hinten glatt hinunter, und das war ganz und gar unmöglich. Vielleicht war es ihr nicht bewusst – auch wenn Marantha es ihr schon tausendmal gesagt hatte –, aber es bewirkte, dass sie nicht besser aussah als eine Putzfrau oder eine dieser Immigrantinnen mit fettigem Haar und der Andeutung eines Schnurrbarts. Marantha war verärgert, und bevor sie an sich halten konnte, begann sie zu husten. Es war kein Krampf, nein, so schlimm war es nicht, aber es schnürte ihr die Kehle zu, und Will fuhr in seine Hose und brüllte: »Bring ihr ein Glas Wasser – siehst du denn nicht, dass sie einen Krampf hat?«
»Nein«, hörte sie sich sagen, und jetzt hatte sie Tränen in den Augen, »nein, es geht schon«, aber es war, als hätte irgendein Wesen seine Klauen in ihre Kehle geschlagen und wollte nicht loslassen. Es dauerte einen langen Augenblick, während Edith, obgleich Will noch gar nicht vollständig angezogen war, ins Zimmer eilte und das Glas Wasser holte, und dann trank sie und spürte, wie das Wesen seinen Griff lockerte. Sie rang keuchend nach Atem. Stand dann in der Tür, fühlte sich schwach und schwindlig und spürte, wie sich alles um sie herum drehte, bis sie ihre Tochter fragen konnte, was es denn gebe.
»Es ist wegen Ariel«, sagte Edith, deren Augen plötzlich in Tränen schwammen.
»Ariel? Wer ist Ariel?«
Wills Stimme klang wie ein Hammer, streng und missbilligend: »Das Lamm.«
Sie begriff nicht. »Lamm?« wiederholte sie verständnislos.
»Ihm ist ganz kalt. Er hat die ganze Nacht geschrien. Er zittert.«
Morgendliche Geräusche drangen auf einmal an ihr Ohr: Vor dem Fenster sangen Vögel, unten schlug Ida die Ofentür zu, vom Hof hörte sie das gedämpfte Murmeln von Stimmen – Jimmie und Adolph –, und dahinter ertönte, so leise wie das Quietschen einer Türangel, das langgezogene schwache Klagen eines mutterlosen Lämmchens, das man der Kälte der Nacht ausgesetzt hatte. Sie folgte Edith die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus in den Wind, der unablässig die eiskalte Luft über dem Ozean mitnahm und über die Insel trieb. Das Lamm war auf dem Vorplatz angebunden, seine Augen waren stumpf und blickten leer. Es hatte sich auf die Erde gelegt, aber als sie aus dem Haus traten, erhob es sich mit wackligen Beinen und wollte blöken, doch es kam kein Laut heraus.
Jimmie und Adolph tranken Kaffee aus verbeulten Blechbechern und sahen gleichgültig zu.
»Siehst du, Mutter?«
Es war Ediths Idee, das Tier ins Haus zu tragen und neben dem Ofen abzusetzen, wo es sich wärmen konnte, obwohl das ganz und gar nicht vernünftig war. Man brachte keine Stalltiere ins Haus, es sei denn, man war selbst ein Tier. Dieses Lamm würde sterben, das sah Marantha sofort – jeder konnte es sehen –, aber der Ausdruck auf Ediths Gesicht und die Art, wie sie die Initiative ergriffen und beharrt hatte, rührten ihr Herz. »Na gut«, sagte sie und folgte ihrer Tochter durch die Haustür und in den Salon des Hauses, das ohnehin kaum mehr als ein Stall war, »aber du musst es am Ofen festbinden, denn ich will nicht, dass dieses Tier im Haus herumläuft und ... und sich erleichtert , hast du
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