San Miguel: Roman (German Edition)
gemeißelt. Das war eine Erleichterung. Besonders wenn man bedachte, wie sie gegen diesen Umzug gekämpft und einen Wutanfall nach dem anderen bekommen hatte, als wäre es das Ende ihres Lebens, wenn sie auf den Klavier- und Tanzunterricht und die neuen Freundinnen, die sie in der Stadt kennengelernt hatte, verzichten müsste. Die Entscheidung ist gefallen , hatte Marantha gesagt. Der Vertrag ist unterschrieben, das Geld ist bezahlt. Denk zur Abwechslung mal nicht nur an dich selbst. Worauf Edith erwidert hatte: Das tue ich ja. Ich denke an dich.
Doch jetzt, in der Aufregung der Ankunft und des Einrichtens, schien sie ganz verändert. Der Ritt auf dem Maultier hatte ihr offensichtlich sehr gefallen. Und alles war so neu: die Truthähne, die im hohen Gras brüteten, das wunderschöne Perlmutt der Muscheln, aus denen sie, wie sie beschlossen hatte, Halsketten machen würde, die Wildheit und Einsamkeit der Hügel und Täler, die im Nebel verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.
»Es ist wie in Sturmhöhe «, hatte sie gesagt, als sie sich zum Essen gesetzt hatten. »Wie in einer wilden Moorlandschaft mit muhenden Kühen und umherziehenden Schafherden. Ganz genauso.« Und dann hatte sie aus dem Fenster auf den Vorplatz gesehen, wo Jimmie und Adolph Wurzeln und Treibholz für den Ofen zersägten und aufstapelten. »Aber wo ist mein Heathcliff?« Und dann hatten sie beide gelacht, und das war gut, denn zum erstenmal seit Wochen – oder jedenfalls seit sie mit der mühsamen Arbeit begonnen hatten, zu organisieren und zu packen und in den verschiedensten Geschäften Lebensmittel und Gerätschaften zu bestellen – hatte Marantha das Gefühl, als sei eine Bürde von ihren Schultern genommen.
Und dann das Lamm. Während des ganzen Essens konnten sie es im Hof blöken hören, und es hörte nicht auf zu blöken, auch nicht, nachdem Edith ihm eine Schüssel mit gewärmter Milch gegeben hatte. Sie hatte die Finger hineingetaucht und das Lamm daran lecken lassen, als wären es Zitzen. Es blökte, während sie den Tisch abdeckten, um Karten und Ouija zu spielen, und es blökte immer noch, als sie und Will die Treppe zum Schlafzimmer mit den frischgewaschenen Laken, der schmuddeligen Tagesdecke und den noch feuchten Bettvorhängen hinaufgingen.
Sie lag lange wach und lauschte auf das Blöken, obwohl sie erschöpft war und keinen Finger hätte rühren können, und wenn das Bett in Flammen gestanden hätte. Im Dunkeln hörte sie ein verstohlenes Rascheln – Mäuse, wie sie bald feststellen sollte, Legionen von Mäusen, die überall waren, als gehörte dieses Haus ihnen, als hätten sie es an sie und Will nur vermietet – und ein wiederholtes Scharren, das sie nicht zu deuten wusste. Es hätte der Hirtenhund sein können, der an der Tür kratzte, oder irgendein anderes Tier, das versuchte, ins Haus zu gelangen, oder vielleicht kamen die Robben nachts hierherauf, vielleicht waren es Seevögel oder Eulen, was wusste sie schon? Vielleicht war es auch nur Einbildung, und sie hörte Dinge, die gar nicht da waren, weil ihre Nerven so angespannt waren, weil die Stille so alles beherrschend war, ganz anders als in der Post Street, wo man immer Stimmen hören konnte, Hufschlag, das Quietschen und Rasseln von Wagenrädern, entfernte Musik, Leben.
Gegen Morgen – sie musste eingenickt sein, denn sie fuhr von einem Schmerz in der Brust hoch, der sich anfühlte, als wäre dort drinnen etwas Lebendiges, das herauswollte – hörte sie ein leises, entferntes Gebell, das gar keine Ähnlichkeit mit dem eines Hundes hatte oder mit den durchdringenden, rauhen Schreien der Robben, die so laut gewesen waren, als säßen die Tiere auf dem Vorplatz. Verwirrt lauschte sie lange, bis ihr einfiel, dass es wohl das Bellen der Füchse war, von denen Will ihr erzählt hatte: zwergwüchsige Tiere, nicht größer als eine Katze, die in der Nacht herumschlichen und sich einen Truthahn oder ein Huhn oder die Eier holten, die diese Vögel in ordentliche Nester aus Gras gelegt hatten und im Dunkeln nicht verteidigen konnten. Das Geräusch war gedämpft und ertönte in großen Abständen, und nach einer Weile ließ es sie wieder in Schlaf gleiten.
Wenn sie überhaupt träumte, dann von Sonnenlicht auf einer weinüberrankten Mauer und prallen Trauben, auf denen noch der Tau lag, doch noch bevor es ganz hell geworden war, wurde sie von einem Klopfen an der Tür geweckt, das Will mit einem erschrockenen Grunzen hochfahren ließ. »Lass nur«, murmelte sie und
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