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San Miguel: Roman (German Edition)

San Miguel: Roman (German Edition)

Titel: San Miguel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Stimme klang ganz falsch, viel zu hart. »Manchmal kommt das Mutterschaf nämlich zurück – stimmt’s, Jimmie? –, und dann hat das Lamm eine größere Überlebenschance, als wenn es auf ein Mädchen angewiesen ist, das trotz seiner Größe und Kraft doch immer noch ein Kind ist und es sechsmal am Tag mit angewärmter Milch füttern muss.«
    Edith sah ihn nicht einmal an. Sie richtete sich auf und wandte sich zu ihr, zu ihrer Mutter. »Können wir es behalten?«
    Und was sagte sie? Sie sagte: »Natürlich, natürlich können wir das« und sah dabei Will an. »Wir können das arme Tier doch nicht hier draußen verhungern lassen.«

DAS LAMM
    Das Essen am ersten Abend war eine bescheidene Angelegenheit und nicht sehr festlich, aber besser, als man hätte erwarten können, wenn man bedachte, wo sie waren und welch eine Veränderung sie innerhalb von nur zwölf Stunden erlebt hatten, von dem Zeitpunkt, als sie auf dem Festland erwacht und aufgestanden waren, bis jetzt, da die Nacht sich gerade über die Insel gesenkt hatte. Der Tisch war in die Mitte des Raums gerückt und mit einer Decke versehen worden, im gusseisernen Ofen brannte ein Feuer, das die Kälte vertrieb, und Will hatte zwei Laternen angezündet, die jedesmal, wenn sich jemand bewegte, übermütige Schatten auf die Wände warfen. Sie nahm das angebotene Glas Wein und stieß mit Will auf ihr neues Leben und ihre neue Familie an, auf alle, auch auf Adolph und Jimmie, die am unteren Ende des Tischs saßen und verlegene Gesichter machten. Für sie gab es Bier und für Edith eine Flasche Kräuterlimonade. Was immer die Sorgen und Ängste gewesen waren, die Marantha zuvor überfallen hatten – die Ereignisse des Tages, die Sonne und die Neuheit der Umgebung hatten all das beiseite geschoben, und jetzt war sie ruhig. Ruhig, ausgeglichen und sogar dankbar.
    Die Abalonen waren eine angenehme Überraschung, unerwartet gehaltvoll und aromatisch. Sie waren stark gepfeffert und in der Sahne der Milch von der Kuh gekocht, die Jimmie eine Woche zuvor von der Weide geholt hatte, nachdem ihr Kalb verendet war – in Sahne und der Butter, die sie vom Festland mitgebracht hatten. Hätte sie es nicht besser gewusst, so hätte sie gedacht, sie esse eine Austernbisque an einem von Kerzen beleuchteten Tisch im Fior d’Italia in San Francisco. Und Ida hatte den Truthahn sehr gut zubereitet. Er war zwar nicht so saftig, wie man es sich gewünscht hätte, aber wenigstens nicht verbrannt oder strohtrocken, und unter diesen Umständen war das eine Leistung.
    Andererseits aßen sie von einem bunt zusammengewürfelten Sortiment angeschlagener Teller, die sie, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Kiste mit dem von ihrer ersten Schwiegermutter geerbten Wedgwood-Service irgendwie vergessen worden war, in einem schmutzigen Küchenschrank entdeckt hatte. Auch das Besteck war nicht angekommen, und so mussten sie sich mit diversen Löffeln und Gabeln behelfen und die beiden Messer mit den beinernen Griffen herumgehen lassen, die offenbar seit Ewigkeiten auf dem Brett des Küchenfensters gelegen hatten.
    Es war primitiv. So primitiv, dass ihr fast die Tränen kamen, doch sie beherrschte sich – wie am Morgen, als der Husten wieder angefangen hatte –, denn sie wollte Will die Freude nicht verderben. Dies war seine Idee, sein Projekt, sein Traum, und in den vergangenen Monaten hatte er so oft darüber gesprochen, dass es zu einer Litanei von Erfolg und Wachstum und Gesundheit geworden war. Jetzt war das Abstrakte konkret geworden. Er war außer sich vor Begeisterung, seine Augen über dem dichten, militärisch gestutzten Schnurrbart leuchteten, als er seine Pläne für den Weg und die Nebengebäude erläuterte, für die Schafe und Schweine und alles andere, ja sogar für ein Boot – wenn sie nicht selbst eins aus Wrackteilen bauen könnten, würden sie eben sparen und eines der Fischerboote in Santa Barbara kaufen, sobald die Wolle zu Geld gemacht war. Sie hatte ihn noch nie so glücklich gesehen. Während er den Truthahn tranchierte, summte er vor sich hin, und dann tänzelte er um den Tisch herum, servierte jedem ein großes, dampfendes Stück Fleisch und hörte dabei keine Sekunde lang auf zu reden. Wachstum, das war sein Thema. Wachstum, Steigerung und Gewinn.
    Auch Edith schien guter Stimmung zu sein. Sie plauderte mit Ida und sah hin und wieder zu Jimmie, der errötete und das Gesicht abwandte, und zu Adolph, dem unerschütterlichen Adolph, der dasaß wie aus Stein

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